Von der Anatomie des Reichtums zur Metaphysik des Wertes

Die vorangegangene Analyse in „Reich ist nicht gleich reich“ sezierte die Anatomie der Ungleichheit. Sie legte die Mechanismen, Strukturen und kategorialen Differenzen offen, die unseren ökonomischen Kosmos prägen: die Spaltung zwischen Einkommen und Vermögen, zwischen gebundenem Besitz und freiem Kapital, zwischen immunisierter Macht und permanenter Verletzlichkeit.

Doch diese Phänomene werfen eine fundamentale, dahinterliegende Frage auf: Was ist es eigentlich, das hier so ungleich verteilt ist? Was ist dieser „Wert“, der in Billionen Euro Vermögen, in Lohnabrechnungen und Sozialleistungen erscheint, aber auch in Konzepten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität?

Die ökonomische und soziale Realität, die wir seziert haben, ist nicht neutral. Sie ist das Ergebnis von Setzungen, von historischen und kulturellen Entscheidungen darüber, was in unserer Gesellschaft als wertvoll gilt und was nicht. Die Frage nach dem Wert ist daher die Grundfrage, die unter der Oberfläche der Vermögensstatistiken und Steuerdebatten lauert.

  • Warum hat die Arbeit einer Pflegekraft in unserem System einen anderen „Wert“ als die Kapitalrendite eines Erben?
  • Auf welcher werttheoretischen Grundlage legitimieren wir ein Eigentumsrecht, das auf historischer Enteignung beruht?
  • Ist die Menschenwürde ein unbedingter Wert, wie Kant behauptet, oder unterliegt auch sie, wie Nietzsche nahelegt, den Machtverhältnissen, die wir analysiert haben?

Um die Tiefenstruktur unserer Ungleichheit vollends zu verstehen, müssen wir eine Ebene tiefer gehen. Wir müssen die Werkzeuge, mit denen wir „Wert“ überhaupt denken und bemessen, selbst in den Blick nehmen.

Kapitel 3: Wert und Nichtwert verlässt die Ebene der sozioökonomischen Diagnose und begibt sich auf eine interdisziplinäre Spurensuche. Es untersucht den Wertbegriff als solchen – in der Philosophie, der Soziologie, der Rechtswissenschaft und der Ökonomie. Es wird zeigen, dass sich „Wert“ stets in der kategorialen Differenz zu einem „Nicht-Wert“ konstituiert und dass diese Setzungen nie neutral, sondern immer auch machtdurchdrungen und umkämpft sind.

Die Reise durch die Werttheorien von Kant bis Gabriel ist keine akademische Abschweifung. Sie ist die notwendige Grundierung, um die politischen und ökonomischen Konflikte unserer Zeit – deren Oberfläche wir in Kapitel 2 kartographiert haben – in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen.

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