Die kategoriale Differenz der Verletzlichkeit: Ein Schicksalsschlag entfernt


Die Diskussion über Reichtum und Armut übersieht systematisch die kategoriale Differenz der Verletzlichkeit. Sie suggeriert, die statistische Mitte sei durch ihr Vermögen gesichert. In Wahrheit ist der Abstand zwischen „normal“ und „arm“ erschreckend gering. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nur einen Schicksalsschlag entfernt – den Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit oder eine Scheidung – von der existenziellen Notwendigkeit, ihr Vermögen aufzehren zu müssen.

Die trügerische Sicherheit des Medianvermögens


Das Medianvermögen in Deutschland liegt bei etwa 106.000 Euro. Diese Zahl markiert die Spitze der unteren Hälfte der Gesellschaft und wird oft fälschlicherweise als Ausdruck von Stabilität gedeutet.

  • Die Nähe zur Not: Dieses Vermögen mag in der Lebenswelt der Geringverdiener als unerreichbar gelten. In der Realität der Mittelschicht ist es jedoch oft das Ergebnis jahrzehntelanger Sparleistung – nicht primär zur Investition gedacht, sondern zur Absicherung.
  • Der Abgrund der Verwertung: Die eigentliche kategoriale Spaltung zeigt sich hier: Das Vermögen der Mitte ist kein Kapital (eine generative Ressource), sondern eine Verbrauchsreserve, deren Zweckbestimmung die Vernichtung im Notfall ist.

Die Härte des Sozialrechts: Die Verwertungspflicht


Die Verletzlichkeit der statistischen Mitte wird durch das Sozialrecht brutal offengelegt. Die Regeln des Bürgergeldes machen deutlich, dass Vermögen oft nur Sicherheit auf Zeit ist.

  • Die Verwertungspflicht: Bevor der Staat mit bedarfsorientierten Leistungen unterstützt, muss das Vermögen prinzipiell „aufgegessen“ werden. Ein Urteil des Bundessozialgerichts von 2012 illustriert dies drastisch: Ein Ehepaar musste sein 120 m² großes Eigenheim verkaufen, nachdem die Kinder ausgezogen waren – es galt fortan als „zu groß“.
  • Reich auf dem Papier, mittellos in der Krise: Dieses Prinzip zwingt Menschen dazu, ihre hart erarbeitete Lebensleistung – das abbezahlte Haus, die Altersvorsorge – zu zerstören, bevor sie auf staatliche Solidarität hoffen können. Selbst ein Haus im Wert von einer Million Euro ist kein geschützter Besitz, sondern Verwertungsmasse.

Die zwei Wahrheiten der Armut und die kategoriale Differenz

Die Vermögensfrage spaltet die Gesellschaft nicht nur in die, die viel haben, und die, die wenig haben. Sie spaltet sie in die, deren Existenz durch einen Schicksalsschlag systemisch verwundbar ist, und die, deren Kapital immunisiert ist.

  • Die Perspektive der Armen: Sie schauen nach oben und sehen in den 106.000 Euro einen unerreichbaren Reichtum.
  • Die Perspektive der Mitte: Sie schaut nach unten und sieht die Armut des Bürgergeldes und die eigene prekäre Lage.
  • Beide liegen richtig.

Die wahre kategoriale Differenz verläuft zwischen:

  • Dem verwundbaren Besitz der Mitte, der im Notfall verbraucht werden muss.
  • Dem immunen Kapital der Wohlhabenden, für die ein Rückschlag ein operatives Risiko ist, das durch Diversifikation und die Fluchtgeschwindigkeit des Kapitals aufgefangen wird.

Die Illusion der Sicherheit

Reichtum ist nicht nur Yacht und Villa. Reichtum ist auch: eine abbezahlte Wohnung, ein sechsstelliger Betrag als Reserve. Armut ist nicht nur „kein Geld“, sondern die ständige Angst, dass ein Schlag das Wenige zerstört.

Solange die kategoriale Differenz der Verletzlichkeit besteht, bleibt die breite Masse – auch wenn sie statistisch zur Mitte zählt – strukturell in der Nähe zur Armut. Die Debatte muss sich von den Extremen lösen und anerkennen, dass die Sicherheit der Mitte eine Illusion ist, solange ihr Vermögen im Ernstfall nicht schützt, sondern geopfert werden muss.

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