Kapitel 17: Kreuzeckstraße

Die Baustelle hatte ein Dach,
aber kein Leben.
Nur ein Zwischenraum
zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.

Also zog ich weiter –
zur Tante Sigrun
nach Grünwald.
Kreuzeckstraße.
Grünwald, wo die Hecken höher waren
als die Sorgen.

Ich war plötzlich wieder untergebracht,
nicht mehr zwischen Ziegeln,
sondern unter einem gedeckten Tisch.


Und dann:
Schuhverkäuferlehre bei traditionsreichen Schuhaus in München,
Dem „ältesten Schuhhaus der Welt“.
Was auch immer das bedeutete.
Tradition, Prestige, Patina.
Alles, was mir fremd war,
aber was ich tragen konnte wie einen Anzug.

Ich lernte, wie man
Pferdeleder auf Hochglanz bringt.
Dass der Spiegel im Schaufenster
nicht besser sein darf
als der Glanz auf dem Schuh.
Dass Dekoration in der Auslage
niemals improvisiert aussieht,
auch wenn sie es immer ist.


Eines Tages stand er da:
Walter Scheel.
Der Ex-Bundespräsident.
Fein, höflich, kontrolliert.
Und ich –
ein Lehrling mit Vergangenheit
und ohne Zukunft –
reichte ihm die Schuhe.

Kein Händedruck,
aber ein kurzer Blick.
Und in seinem Blick
lag für einen Moment
so etwas wie
Gleichgewicht.


Ich war der Junge aus der Baustelle,
der Obdachlose in der Disko,
der Scheinsohn im 500 SL
und jetzt:
Schuhverkäufer in der feinen Auslage
eines Traditionshauses,
dessen Geschichte älter war
als alle meine Brüche zusammen.

Aber ich war da.
Ich passte rein.
Weil ich überall reinpasste.
Weil ich gelernt hatte,
dass Identität wechselbar ist
wie Schuhe:
Man muss nur wissen,
wie man sie schnürt.




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