Kapitel 82: Stimmen der Kieselsteine

Ich setzte mich hin und begann zu posten.
Nicht in der Hoffnung auf Beifall, auf Likes oder auf Echo.
Sondern um die Stimmen derer zu ordnen, die mich geprägt hatten.
Zweihundert Nachrichten in zwölf Stunden, 280 Zeichen pro Atemzug.

Mozart sagte: „Liebe! Liebe! Liebe!“ –
ich spürte die Sehnsucht nach dem, was ein Genie ausmacht.

Van Gogh träumte seine Bilder.
Ich malte meine Gedanken in Tweets.
Meine Träume auf den Bildschirm.

Kafka schlug die Axt ins Eis:
„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Und ich wollte mit jedem Post eine kleine Welle schlagen.

Frida Kahlo flüsterte:
„Wozu Füße, wenn ich Flügel habe?“
Und ich setzte meinen Fuß in die virtuelle Welt,
aber meine Gedanken flogen weiter.

Emily Dickinson sang von Hoffnung,
Bach von Arbeit, Beethoven von Offenbarung.
Und all diese Stimmen wurden zu einer Melodie,
die niemand hörte,
aber die in mir wuchs.

Ich erinnerte mich an Anne Frank,
Paul Celan, Sophie Scholl, Wolfgang Borchert.
An Menschen, die in Terror und Gewalt noch einen Atemzug machten,
die standen, auch wenn alles zerbrach.

Und dann die Rebellen, Gandhi, Mandela, Rosa Parks, Che, Malala.
Ihre Worte wie Kieselsteine in meiner Hand.
Jede Silbe, jede Wendung, ein kleiner Schlag,
ein Hinweis, dass Widerstand, Liebe, Mut, Hoffnung nicht verhandelbar sind.

Ich dachte an die Armen, die Helfer, die Unbeachteten:
Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Florence Nightingale.
Sie sprachen nicht zu mir,
aber ich hörte sie.
Jeder Satz ein Fingerzeig: Handle. Jetzt. Immer wieder.

Umberto Eco warnte: „Sprich nur, wenn du verstanden hast.“
Feynman lachte: „Surely you’re joking!“
Erich Fromm unterschied reife Liebe von Bedürftigkeit,
Perls machte klar: jeder lebt sein eigenes Leben.

Paul Watzlawick, Harris – sie alle flüsterten mir über die Jahre hinweg:
„Kommuniziere. Sei OK. Sei Mensch.“

Ich spürte, wie all diese Stimmen, diese Steine,
sich in mir stapelten,
schwollen zu einem Fluss, der durch die Gegenwart jagte.
Meine Posts – flüchtige Wellen in der unendlichen digitalen See.
Die meisten ungelesen, ungehört.
Aber sie existierten.

Und das war genug.
Nicht für andere.
Für mich.
Jeder Kiesel ein Lehrer, ein Warnruf, ein Trost.
Jedes Echo, das ausblieb, zeigte mir nur, dass die Steine ihren eigenen Weg gehen.

Ich sammelte weiter Kieselsteine.
Die Stimmen bleiben.
Ich auch.


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