Kapitel 27 – Sekundenschlaf

Dass ich noch lebe,
ist bei nüchterner Betrachtung
weniger ein Verdienst als ein Wunder.

Denn der Käfer war nicht das einzige Auto, das ich der Welt entriss.

Es war eine Feier.
So eine, wie sie enden:
Zigarettenqualm in der Luft,
leere Flaschen auf dem Tisch,
und irgendwann:
alle weg.

Bis auf sie.
Meine Schwester.

Die Letzte, die noch mit mir im Auto saß.
Fiesta. Kein Luxus, aber rollte.

Ich war müde.
Nein, ich war drüber.
Die Art von Müdigkeit,
bei der die Lider bleischwer werden
und der Kopf plötzlich schwerer als der Rest des Körpers scheint.

Fenster runter, kalte Luft ins Gesicht.
Der Klassiker gegen Sekundenschlaf.
Sie meckert.
„Mir ist kalt.“

Ich bin Bruder. Ich bin Fahrer. Ich bin vernünftig.
Fenster wieder zu.

Fehler.

Denn wenn sie schlafen kann,
kann ich es auch.
Und der Körper kennt den Heimweg
nur bis zur letzten Vorfahrt-achten-Kreuzung.
Danach
verlässt ihn die Wachsamkeit.
Stalleffekt.

Psychologisch bin ich schon angekommen,
praktisch:
kommt da noch eine Kurve.

Und ich nehme sie nicht.
Nicht wach.

Was mich weckt, ist kein Gedanke.
Es ist
ein Krachen.

Ein Holzpfahl schlägt durch die Frontscheibe,
spaltet das Glas
als wäre es Papier.

Ein Geräusch wie ein Faustschlag Gottes.
Im Reflex dreht sich mein Kopf zur Seite.
Später sehe ich das Loch,
und die Spur,
die er sich durch die Scheibe gefräst hat.

Er wäre durch meinen Kopf gegangen.

Ein runder Gegenstand –
eine Erinnerung wie aus dem Traum eines Sterbenden.
Ich sah ihn kommen.
Ich duckte mich.

Wäre ich zwei Sekunden länger müde gewesen,
gäbe es dieses Kapitel nicht.
Kein Gespräch.
Kein Ich.

Aber ich war da.
Und kümmerte mich.
Rettungssanitäter.

Ich reagierte nicht mit Panik,
sondern mit Routine.
Sie – meine Schwester –
in Schocklage gebracht.
Pulskontrolle.
Reden. Stabilisieren.

Bis der Rettungswagen kam.
Meine Wache. Die Rettungswache im Landkreis.
Sie steigen aus,
sehen mich.
Sehen sie.

Und einer sagt:
„Deine Schwester ist nicht das Problem.
**Du hast einen Schock. Komm mal runter.“

Er hatte recht.
Ich war funktional.
Aber leer.

Und so lag ich später da,
nicht im Graben,
aber in Gedanken.
Und verstand:
Leben ist keine Selbstverständlichkeit.

Es ist ein ständiges Verpassen
von Momenten, in denen man eigentlich hätte sterben sollen.
Aber nicht gestorben ist.



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