Kieselsteine

  • Kapitel 17: Kreuzeckstraße

    Die Baustelle hatte ein Dach,
    aber kein Leben.
    Nur ein Zwischenraum
    zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.

    Also zog ich weiter –
    zur Tante Sigrun
    nach Grünwald.
    Kreuzeckstraße.
    Grünwald, wo die Hecken höher waren
    als die Sorgen.

    Ich war plötzlich wieder untergebracht,
    nicht mehr zwischen Ziegeln,
    sondern unter einem gedeckten Tisch.


    Und dann:
    Schuhverkäuferlehre bei traditionsreichen Schuhaus in München,
    Dem „ältesten Schuhhaus der Welt“.
    Was auch immer das bedeutete.
    Tradition, Prestige, Patina.
    Alles, was mir fremd war,
    aber was ich tragen konnte wie einen Anzug.

    Ich lernte, wie man
    Pferdeleder auf Hochglanz bringt.
    Dass der Spiegel im Schaufenster
    nicht besser sein darf
    als der Glanz auf dem Schuh.
    Dass Dekoration in der Auslage
    niemals improvisiert aussieht,
    auch wenn sie es immer ist.


    Eines Tages stand er da:
    Walter Scheel.
    Der Ex-Bundespräsident.
    Fein, höflich, kontrolliert.
    Und ich –
    ein Lehrling mit Vergangenheit
    und ohne Zukunft –
    reichte ihm die Schuhe.

    Kein Händedruck,
    aber ein kurzer Blick.
    Und in seinem Blick
    lag für einen Moment
    so etwas wie
    Gleichgewicht.


    Ich war der Junge aus der Baustelle,
    der Obdachlose in der Disko,
    der Scheinsohn im 500 SL
    und jetzt:
    Schuhverkäufer in der feinen Auslage
    eines Traditionshauses,
    dessen Geschichte älter war
    als alle meine Brüche zusammen.

    Aber ich war da.
    Ich passte rein.
    Weil ich überall reinpasste.
    Weil ich gelernt hatte,
    dass Identität wechselbar ist
    wie Schuhe:
    Man muss nur wissen,
    wie man sie schnürt.




  • Kapitel 16: Unter Putz, über Lack

    Ich kam nicht nach Hause zurück.
    Nicht zur Mutter.
    Nicht ins alte Kinderzimmer.
    Nicht zu den Geschwistern,
    die mich sowieso nicht verstanden.

    Aber ich hatte noch ein Netzwerk,
    so löchrig es war.
    Ein paar Kontakte.
    Ein Vater,
    der den Brief bekam.

    Und eine Baustelle in Freising.
    Mein neues Zuhause.
    Wände ohne Putz.
    Kein Strom. Kein Wasser.
    Aber ein Dach über dem Kopf.


    Arbeit hatte ich keine.
    Essen nur, wenn ich es mir organisierte.
    Was für manche „Diebstahl“ war,
    war für mich: Überleben.
    Bierkästen vom Pfandlager
    sind schnell geklaut
    und noch schneller zurückgegeben.


    Ich hatte nichts
    und trug trotzdem den Schein.
    Ich hing in umliegenden Dörfern in Diskos rum,
    und in Sabines Pub,
    und mit Thommy zogen wir durch die Nächte.
    Ich war jung genug,
    um als einer von ihnen zu gelten.
    Nicht als Obdachloser,
    nicht als Gestrandeter.
    Einfach nur ein Typ, der mitfeiert.

    Einmal schaffte ich es,
    einen Vollrausch mit 20 Pfennig zu bekommen.
    So sehr war ich Teil dieser Welt,
    dass niemand fragte,
    woher ich kam oder wohin ich ging.


    Der Kriminelle aus einer Ruhrgebietsstadt–
    der mich in den Puff schleifte –
    hat keinen Namen mehr.
    Vielleicht war er nur eine Figur
    in einem Kapitel,
    das sich selbst gelöscht hat.
    Ich hab ihn nicht vergessen,
    aber er hat keine Kontur mehr.


    Und dann gab es die andere Seite:
    die glitzernde.
    Wenn ich beim Essen mit saß,
    an Tischen mit Männern,
    die Quandt kannten
    und über Deals redeten,
    bei denen mein Monatsbedarf
    nur die Weinflasche kostete.

    Ich war der Sohn des Familienunternehmens.
    Vorzeigbar.
    Beredt.
    Nicht ausgebildet,
    aber mit dem richtigen Namen,
    dem richtigen Look,
    dem richtigen Lächeln.

    Schein ist mächtig.
    So wie der Mercedes 500 SL,
    den man nicht fährt,
    aber auf dem Parkplatz steht,
    wenn es darum geht,
    was man darstellt
    nicht, was man ist.


    Das Leben zwischen Rohbau und Glanzlack,
    zwischen Pfandkisten und Puff,
    zwischen Disko und Familienessen,
    hat mich mehr über Gesellschaft gelehrt
    als jeder Philosophieband.

    Denn ich habe beide Seiten gesehen.
    Von ganz unten und ein Stück nach oben.
    Und manchmal lag nur ein Kieselstein dazwischen.



  • Kapitel 15: Der Brief aus dem Speicher

    Ich war zurück in München.
    Nicht zu Hause –
    aber zurück in der Stadt, in der ich geboren wurde.

    Ich war zwischen Frankreich und Freising gestrandet,
    hatte die Sahara nicht erreicht
    und das Leben hatte mich auf Umwegen wieder
    an den Anfang geworfen.


    Obdachlos. Stolz. Zerrissen.
    Ich hatte keine Adresse,
    keinen Plan,
    aber einen Vater –
    und eine Wut.

    Vielleicht war es keine Wut.
    Vielleicht war es Verzweiflung,
    vermischt mit Hoffnung,
    die so tief im Stolz vergraben war,
    dass sie sich nicht als Bitte äußern konnte.

    Also brach ich in sein Büro ein.


    Das ist keine Metapher.
    Ich stieg tatsächlich ein.
    In das Büro meines eigenen Vaters.

    Ich setzte mich an die Schreibmaschine
    seiner Sekretärin
    eine dieser frühen, intelligenten Maschinen
    mit Datenspeicher.

    Ich schrieb ihm einen Brief.
    Nicht mit Tinte, nicht mit der Hand,
    sondern getippt, mechanisch,
    maschinell – aber mit Herzblut.
    Vielleicht mein stummes „Sieh mich“,
    mein verzweifeltes „Ich bin noch da“.

    Ich hinterließ den Brief
    auf seinem Schreibtisch.

    Ich dachte, er würde ihn finden,
    wenn er am Morgen sein Büro betritt.


    Aber ich hatte die Rechnung ohne die Intuition der Sekretärin gemacht.

    Sie kam früher.
    Und sie merkte es.
    Eine Einstellung war verstellt.
    Eine Kleinigkeit nur –
    aber sie wusste:
    Jemand war an ihrer Maschine.

    Sie durchsuchte den Datenspeicher.
    Druckte den Brief aus.
    Gab ihn meinem Vater,
    noch bevor er das Büro betrat.


    Ich weiß nicht mehr, was ich geschrieben habe.
    Vielleicht weiß er es noch.
    Vielleicht hat er es vergessen.

    Aber ich erinnere mich an das Gefühl:
    Ich war zu stolz, um um Hilfe zu bitten.
    Doch nicht stolz genug,
    um gar nichts zu sagen.


    So funktioniert Erinnerung bei mir:
    Ein Kieselstein wird geworfen,
    trifft etwas Altes,
    löst etwas Neues aus.
    Ein vergessenes Detail,
    ein Geruch,
    eine Bewegung.
    Und plötzlich sehe ich mich selbst
    an der Schreibmaschine –
    in einem Büro, das mir nicht gehörte,
    bei einem Vater,
    dessen Anerkennung ich mir nie verdienen konnte.

  • Kapitel 14: Stolz ist kein Dach über dem Kopf

    Ich war obdachlos.

    Nicht, weil es keine Hilfe gab – sondern weil ich sie nicht in Anspruch nahm. Ich war der bürgerliche Sohn, der unternehmerisch aufwuchs, der als Kind noch zwischen Lochkarten und Jahresabschlüssen in Büros saß und glaubte, alles würde sich schon richten, wenn man nur etwas kann.

    Ich beantragte keine Sozialhilfe.

    Nicht weil ich nicht durfte – sondern weil ich nicht konnte. Freiburg war der erste Halt.

    Max nahm mich auf – mein alter Internats-Kumpel aus dem Jugenddorf in Baden-Württemberg, der Jahre später im Gefängnis landete.

    Ich nicht.
    Ich hatte Glück – oder mehr Feigheit vor dem Gesetz.
    Ich bewarb mich in Freiburg bei einer Metallfirma.
    Erfolgslos.
    Ob ich überhaupt eine Adresse angeben konnte, weiß ich heute nicht mehr genau. Wahrscheinlich eine geliehene, wie so oft damals. Aber ich überzog die Gastfreundschaft.
    Irgendwann spürt man das.
    Auch unter Freunden. Dann zog ich weiter.

    An meinem alten Internatsort in Baden-Württemberg. Vorbei an der alten Schule.
    Kein Halt.
    Kein Bett.
    Kein Zuhause mehr dort.

    Vielleicht nur ein kurzer Blick zurück – auf die Felder, die Wälder, die Vergangenheit.
    Schließlich: München. Hauptbahnhof.
    Ein Ort, wo Leben und Bruchlinien aufeinandertreffen.
    Ich war nicht allein – auch wenn ich niemanden kannte.
    Denn Obdachlose erkennen sich.

    Auch wenn man sich bemüht, nicht so auszusehen: Die Körpersprache verrät dich. Das Abtasten von Menschen, das Umschauen beim Sitzen, der Instinkt fürs Wetter, für offene Türen, für zugewandte Blicke oder abweisende Reaktionen.

    Es ist ein stiller Club.
    Kein Codewort, nur Erfahrung.

    Vielleicht war es Stolz, vielleicht war es Scham – vielleicht beides. Aber ich lebte.
    Ohne Hilfe.
    Ohne Wohnung.

    Mit Erinnerungen im Rucksack und dem brennenden Gefühl, dass das noch nicht das Ende sein konnte.

  • Kapitel 13: Die Suppe in Lyon

    Figuiq.
    Tränen.
    Ich weiß nicht, ob ich über das Scheitern weinte –
    oder weil ich spürte, dass es mehr gebraucht hätte als nur den Willen.

    Vielleicht beides.

    Ich war allein.
    Mitten in der marokkanischen Wüste.
    Sand.
    Hitze.
    Nichts.
    Stundenlanges Nichts.
    Westsahara war vor mir.
    Europa weit hinter mir.
    Ich, ein Häuflein Mensch.
    Noch nicht einmal zwanzig.

    Ich kehrte zurück.
    Nicht nach Hause –
    sondern einfach irgendwohin zurück,
    in Richtung „nicht mehr Wüste“.


    Dann blieb ich in Frankreich liegen.
    Kein Benzin.
    Kein Geld.
    Ich begann zu betteln.
    In Lyon, glaube ich.
    Ein Junge mit deutscher Herkunft,
    fremd, verloren, hungrig.

    Dann kam sie.
    Eine alte Frau.
    Spricht mich auf Französisch an.
    Nicht unfreundlich –
    aber bestimmt.

    „Betteln ist verboten hier.“

    Ich zucke zusammen,
    erwarte Ablehnung.
    Oder eine Anzeige.
    Aber sie nimmt mich einfach mit.

    In ihre Wohnung.
    Einfach.
    Ärmlich.
    Aber nicht schmutzig.
    Würde,
    trotz fast nichts.

    Sie stellt mir einen Teller Suppe hin.
    Und ich weine vielleicht wieder –
    diesmal aus Dankbarkeit.


    Ich habe in meinem Leben viel gesehen.
    Großes.
    Zerbrochenes.
    Gefährliches.

    Aber eines habe ich dabei nie vergessen:
    Die Armen haben mehr Herz als die Reichen.

    Nicht weil sie moralisch besser sind.
    Sondern weil sie wissen,
    was Hunger ist.
    Was Verlorenheit bedeutet.
    Und weil sie sich selbst darin wiedererkennen,
    wenn sie jemanden am Boden sehen.

  • Kapitel 12: Tanezrouft – Die unpassierbare Wüste

    Tanezrouft – das war mein Ziel.
    Oder besser: ein Mythos,
    den ich mit mir herumtrug wie ein Mantra.

    Ich wollte weiter.
    Durch die Sahara.
    Nach Mali, nach Äthiopien, irgendwohin,
    wo ich gebraucht werde.
    Ein junger weißer Europäer mit einem Schuldgefühl
    und dem Willen zur Weltverbesserung.
    Naiv? Vielleicht.
    Aber auch ehrlich.
    Vielleicht das Ehrlichste,
    was ich je getan habe.

    Zum Glück –
    ließ man mich nicht durch.
    Sie haben mich gestoppt.
    An der Grenze zur Tanezrouft.
    An der Grenze zum Tod.
    Denn hätte ich es versucht –
    ich wäre heute tot.

    Was bleibt, ist eine Geschichte.
    Was bleibt, ist ein Text.



    Tanezrouft oder die Kinder Europas

    Am nächsten Tag wachte ich mit einem Kater auf. Es wunderte mich nicht, doch die Kopfschmerzen störten mich trotzdem. Mir war zum Speiben elend. Da war ich nun am Rande der Sahara mitten in einer Oase noch auf marokkanischem Gebiet und wußte eigentlich nicht was ich hier sollte. Ich befand mich in einem Irrtum, wenn ich glaubte auch nur einem Menschen helfen zu können. Ich war wahnsinnig gewesen, als ich mich einfach in mein Fahrzeug setzte und losfuhr. Ein dummer Verrückter war ich und sonst nichts. Ich stand auf, wusch mir das Gesicht und blickte in den Spiegel. Mich starrte ein rotes Gesicht, das mit dem blonden Schopf und den blauen Augen eindeutig einem Mitteleuropäer gehörte, aus diesem milchigen Glas heraus an. Ich gefiel mir gar nicht, so häßlich hatte ich mich schon lange nicht mehr gesehen. Abdul klopfte höflich an der Tür und ich bat ihn herein, erfragte mich in seinem Französisch, was ich denn zum Frühstück wollte. Kaffee gab ich ihm als Antwort und er verschwand wieder. Dann viel mir mit Erschrecken ein, daß ich den marokkanischen Kaffee gar nicht mochte, zumindest nicht so schwarz wie er hier getrunken wurde. Ich hätte Cafe au lait bestellen sollen. Ich zog meinen Koffer unter dem Bett hervor und wechselte meine Kleidung, da ich mich gestern in meinem Frust nicht einmal ausgezogen hatte. Nachdem ich mich angekleidet hatte, ging ich frühstücken. Der Kaffee schmeckte so grauenhaft, wie ich es erwartet hatte, dafür hatte ich einen wunderschönen Blick über Figuid. Figuid war die letzte Oase vor der Tanezrouft, doch für die Augen eines Mitteleuropäers war es nicht zu üppig bewachsen. Es war durchaus noch viel Sand zu sehen, doch hatte ich auf dem Weg hierher, durchaus schonmal vierhundert Kilometer kein Grün zu Gesicht bekommen und so betrachtet war der Anblick der Palmen und der Büsche phantastisch. Hier und da schlenderten Araber umher, später würde man keinen mehr sehen, da zu Mittagszeit sich nur noch verrückte Europäer und Amerikaner, die sich an diesen Grenzort verirrt hatten oder nach Algerien wollten, außerhalb der kühlen Häuser rumtrieben. Der gesamte Bezirk Figuig hatte nur 15.000 Einwohner auf 14 Quadratkilometern. Vielleicht hieß die Oase auch Figig so genau blickte ich da nicht durch und es war mir eigentlich auch egal. Auf meiner Karte stand Figuid und deswegen nannte ich den Ort auch so. Mag sein, daß alles dasselbe hieß nur eben in drei verschiedenen Sprachen. Die Protektoratsverträge mit Spanien und Frankreich wurden immerhin erst 1956 aufgehoben. Das Land war hier hügelig und überall in der Oase sah man die Steinwälle oder kleine Mauern, wobei der Übergang von einer Art Wall zum Bauwerk Mauer fließend war, sodaß man aus der Entfernung nicht sagen konnte, ob es sich dort um einen Steinwall oder eine kleine Mauer handelte, die einen Weg begrenzte. Einmal war ich mit dem Auto in so einen Weg gefahren, der wurde aber immer enger und zum Ende hin durfte ich den ganzen Weg rückwärts wieder hinausfahren, weil kein Weiterkommen mehr möglich war und Wenden unmöglich geworden war. Die Straßen waren nicht für Kraftfahrzeuge gebaut worden, wozu auch, da die meisten Marokkaner kein Auto hatten. Sie waren zu Fuß unterwegs und nur auf langen Strecken und wenn es schnell gehen mußte kam ein Bus oder ein Auto in Frage. Ich hatte das Gefühl, daß man hier unten am liebsten noch Pferd, Esel oder Kamel bevorzugte. Die meisten Fahrzeuge hatte ich noch in Oujda und Ceuta gesehen, je näher ich der Tanezrouft kam, desto weniger sah ich welche und wenn, dann handelte es sich entweder um einen Lastwagen oder um ein ausländisches Auto wie meins. Irgendwo unterwegs hatte ich deutsche Touristen mit einem Campingbus aus Tauberbischofsheim gesehen. An der nächsten Tankstelle trafen wir uns prompt, was nicht weiter verwunderlich war, denn Tankstellen sind selten, sodaß man sich dort immer wieder traf, wenn man dieselbe Strecke fuhr. Diese Touristen wollten eine Saharatour machen. Sie machten dieses schon das zweite Mal, erzählten sie mir. Vielleicht hatten sie auch hier übernachtet, überlegte ich. Ich blickte über die Oase, konnte aber keinen Campingbus entdecken. Selbst wenn sie hier gewesen wären, hätte ich sie höchstwahrscheinlich nicht entdeckt, da das Gebiet zu unübersichtlich war. Abdul kam und präsentierte mir seine Rechnung und ich bezahlte schön brav; er trug mir auch meinen Koffer zum Auto und dann starrte er mich an als ob ich vom Mond käme. Ich wußte ja, daß Europäer für ihn anscheindend seltene Gäste waren, jedoch war sein Blick diesmal seltsamer und merkwürdig. Nachdem ich meinen Koffer gerade im Auto verstaut hatte und die Heckklappe schließen wollte, hielt er diese sanft an und deutete auf die Rücklichter und fing an wie ein Wasserfall zu reden. Ich begriff zunächst nicht was er wollte, bis ich endlich aus seinem Kauderwelsch das Wort Wasser identifizieren konnte. Wahrscheinlich wollte er mich auf Kondenswasser in den Rücklichtern aufmerksam machen, allerdings schienen diese in Ordnung zu sein. Schließlich begriff ich, daß er mir klar machen wollte, wie ich in der Wüste zu Not an Wasser käme. Nach einer halben Stunde oder mehr Geplapper war mir klar geworden, was bei ihm den Redeschwall ausgelöst hatte und warum er plötzlich so hilfsbereit mir sämtliche Stellen am Auto erklärte, an denen jemand in der Wüste Wasser finden konnte. Ich hatte nicht einen Wasserkanister dabei. Abdul hielt mich für einen Todeskandidaten. Die Tanezrouft mußte wirklich die Hölle sein, wenn ein Araber, der vorher noch daran dachte, wie er seinen Europäer am besten ausnehmen konnte, plötzlich angesichts meiner Ausrüstung in Panik geriet und mir zuredete es mir noch einmal zu überlegen. So schlimm würde es hoffentlich nicht werden, versicherte ich ihm. Eigentlich war ich mir da nicht mehr so sicher, doch jetzt hatte ich zehntausend Kilometer hinter mir, jetzt würde ich hier wegen so ein bißchen Wüste nicht umdrehen. Ich ließ Abdul konsterniert zurück. Im Rückspiegel sah ich ihn die Schultern hochziehen und anscheinend kehrte er dann zu seiner Gelassenheit zurück. Soviel schien ihn mein Schicksal auch nicht anzugehen. Ich war wieder alleine auf der Straße und das gefiel mir. Welche Schrecken mir auch bevorstehen mögen, es störte mich im Moment nicht. Ich bewegte mich vorwärts. doch nicht lange bereitete es mir Freude, denn dann hatte ich schon den marrokanischen Grenzposten vor mir. Glücklicherweise schienen sie an mir nicht viel Interesse zu haben und ließen mich durch, was mir ungewöhnlich erschien, da mich bisher jede marokkanische Kontrolle von Kopf bis Fuß und von der vorderen bis zur hinteren Stoßstange durchsucht hatte. Es sei denn ich bot ihnen Bakschisch an. Doch an der algerischen Grenze wußte ich dann warum sie mich einfach durchließen, sie wußten, was ich nicht wußte. Ich hätte natürlich ein Visa für Algerien benötigt. Hier war also meine Reise am Ende. Nichts hätte diese Zöllner zum Erweichen gebracht mich durchzulassen. Ich befand mich im Niemandsland und war soeben zum größten Trottel der Welt befördert und abgestempelt worden. Ich unterhielt mich mit den deutschen Touristen und hätte sie beinahe noch in Schwierigkeiten gebracht, doch begaben sie sich sofort auf Distanz als der Zöllner sie mit mir in Zusammenhang bringen wollte. Beinahe hätte ich ihnen ihre Saharatour vermasselt. Sie hatten in ihrer deutschen Gründlichkeit selbstverständlich ihr Visa bereits in Deutschland beantragt und erhalten. Das nächste Amt, wo ich so ein Visa erhalten hätte, lag einige hundert Kilometer hinter mir in Oujda. Ich realisierte erst wesentlich später, daß es mein Glück war. Zunächst war ich saur und verärgert. Die Marokkaner wollten mich zunächst nicht wieder nach Marokko lassen, erst als sie mit einem Währungstausch ein dickes Geschäft machten, strichen sie den Ausreisestempel aus meinem Paß mit einem großen roten ANNULE!. Jetzt besaß ich wieder Dirham’s und befand mich wieder in Marrokko. Und ich raste ersteinmal blind gen Westen dieser gehaßten Grenze davon. 10.000 Kilometer wegen nichts und wieder nicht gefahren, da kam es auf ein paar geraste Kilometer mehr oder weniger nicht mehr an. Was hatte mich eigentlich hierher gebracht und wo hatte ich bisher die Welt verschlafen. Das Ganze mußte einen Sinn haben und wenn ich hier nicht weiter kam, dann mußte diese Erfahrung einen Sinn haben. Es mußte sinnvoll sein, hämmerte es nur noch in meinem Kopf. Mir wurde bewußt, daß ich nicht durch die höllische Tanezrouft mußte und mir meine Dummheit zuletzt wahrscheinlich auf verrückte Art und Weise mein Leben gerettet hatte. Ich sah den Blick von Abdul vor meinen Augen. Jetzt wußte ich auch was die Blicke mir bisher mitteilten. Sie nahmen mich alle nicht für voll. Selbstverständlich betrachteten sie mich als Kind, als unvernünftiges lebensmüdes Kleinkind. Ich hielt an und betrachtete mir die Wüste. Die große weite Fläche dieser Sandwüste vor mir brannte sich in mein Hirn. Von jetzt an würde ich aufhören ein Kind zu sein. ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die mir erst jetzt bewußt wurden, anscheindend hatte ich von der Grenze bis hierher geheult. Plötzlich sah ich fünfzigjährige Kleinkinder vor meinem geistigen Auge, die seelisch-tot in Europa Gesellschaft spielten. In ihrem Spiel zerstörten sie die Welt und schoben die Verantwortung dafür auf ihre geistigen Brüder, wie Kleinkinder das eben tun. Ich wollte nach Äthiopien um dort zu helfen und sah nicht das Elend vor meinen Augen, weil ich selbst ein solches Kind gewesen war, daß vielleicht nicht begriffen hätte, daß es ein Kind war. Vielleicht würde es in meiner Schwäche mir nie gelingen zu diesen Kindern durchzudringen, die da klagen, ob man ihnen nun fröhlich oder traurig kommt, festlich oder ärmlich, keusch oder unkeusch. Doch diese Kinder Europas waren ärmer als die Ärmsten der Welt, da sie nie geworden sind wie die Kinder, sondern einfach Kinder geblieben sind. Plötzlich wurde ich mir einer Hölle bewußt, doch diese Hölle war nicht die Tanezrouft. Sicherlich hatte ich eine Wüste vor mir, doch war die Wüste nicht so deutlich sichtbar wie die Wüste. Es war ein weiter Weg, aber er war nicht umsonst.

    Ein Text,
    der aus einem jungen Hunger entstand –
    nach Sinn, nach Gerechtigkeit,
    nach irgendetwas,
    das größer ist als der eigene Körper.

  • Kapitel 11: schwarz weiß schwarz

    1979 schrieb ich ein Gedicht.
    Ich war 14.
    Ich schrieb über Ausgrenzung, über Fremdsein, über Alleinsein.
    Ich wusste nicht, dass es so etwas wie strukturellen Rassismus gibt.
    Ich wusste nicht, dass ich damit Worte fand,
    die Jahrzehnte später
    wieder laut werden würden.

    Meine Lehrerin kopierte es auf Matrize.
    Ein Ritual der Zeit:
    Ein Text, vervielfältigt auf dünnem Papier,
    das noch nach Alkohol roch.
    Es war das erste Mal, dass meine Worte Gewicht bekamen.
    Dass andere sie lasen.
    Dass ich spürte:
    Ich habe etwas zu sagen.

    45 Jahre später
    mache ich einen Pogo-Song daraus.
    Die KI half mir.
    YouTube trägt es weiter.
    Ein Kieselstein,
    durch die Zeit geworfen
    und an einer Schnur der Erinnerung wieder aufgelesen.

    Und plötzlich ist da ein Echo.


    Klavierunterricht bei der Nazi-Großmutter

    Ich war vier oder fünf.
    Ich saß am Klavier.
    Meine Großmutter war Klavierlehrerin.
    Eine Frau mit Haltung, mit Bildung, mit Strenge.
    Eine Frau, die nicht mehr an der Hochschule unterrichten durfte
    weil sie die Schwester von Gustav Borger war.

    Gustav Borger –
    zweifelsfrei Nazi.
    Mein Großvater auch.
    Er hat im Krieg mit seinem Leben bezahlt.

    Damals nannte ich sie nicht „Nazigroßmutter“.
    Damals war sie einfach meine Großmutter.

    Ich war ihr Stolz.
    Der Wappenträger der Familie.
    Nicht der Älteste, aber der, auf den man setzte.
    Der das geistige Erbe tragen sollte.
    Vielleicht nicht das ideologische,
    aber das kulturelle.

    Und ich?

    Ich trug dieses Erbe,
    aber ich zerlegte es,
    stückweise,
    in Pogo,
    in Gedichte,
    in Dissonanzen,
    in neue Gedanken.


    „Die rassistischen Jäger hassen nicht nur Neger.“

    So eine Zeile schreibt man nicht leichtfertig.
    Sie ist konfrontativ, sie ist gewollt roh.
    Weil sie aus einer Zeit stammt,
    in der man beginnt,
    sich selbst aus der Geschichte zu herauszuschälen,
    ohne zu verleugnen,
    wo man herkommt.

  • Kapitel 10: Handlesen und der große Bluff

    Ich hatte ein Buch.
    Es war das meiner Mutter,
    ein Buch über Handlesen.
    So begann es.

    Ich arbeitete bei einer großen Teppichkette,
    frühe 80er,
    Teppichverkäufer.
    Und in den Pausen bot ich Handlesen an.
    Halb Witz, halb Magie.
    Ein Spiel.
    Ein Bluff.

    Ich verarschte sie.

    Aber nicht im böswilligen Sinn.
    Es war eher so eine Art Kinderspiel,
    eine Mischung aus Langeweile, Beobachtungsgabe und dem Wissen,
    dass man mit ein paar rhetorischen Tricks und Allgemeinplätzen
    Menschen zum Staunen bringen kann.

    Wie Astrologie.
    Wie Erich von Däniken.
    Wie „Das Philadelphia-Experiment“,
    von dem Moritz und ich in der Schulzeit glaubten,
    wir könnten vielleicht auch irgendwas verschwinden lassen.

    Bullshit.
    Aber faszinierender Bullshit.

    Das Problem ist nur:
    Je intelligenter du bist,
    desto besser kannst du diesen Bullshit konstruieren.
    Und je unsicherer die anderen sind,
    desto eher glauben sie dir.

    Und dann wird’s gefährlich.

    Denn du merkst:
    Du kannst spielen. Mit Menschen.
    Nicht aus Böswilligkeit,
    sondern aus Neugier.
    Aus dem Wunsch heraus, zu verstehen, wie weit du gehen kannst.

    Und manchmal geht es zu weit.

    Ich sage es so, wie ich es heute sehe:

    Die Welt verwechselt Intelligenz mit Wahrheit.
    Und Hochintelligente verwechseln ihr Talent mit Bedeutung.

    Ich habe mit Menschen gespielt.
    Ich habe mir nichts dabei gedacht.
    Ich war ein Kind mit einem Werkzeugkasten, den ich nicht verstanden habe.
    Heute weiß ich:
    Ockhams Razor – das einfachste Erklärungsmodell –
    gilt auch für mich.
    Gilt auch für meine Einfälle.
    Gilt gegen Magie, gegen Handlesen, gegen selbstgemachte Propheten.

    Aber damals?

    Damals war’s ein Zauber, den ich beherrschte,
    weil ich es konnte.
    Und niemand sagte mir,
    dass das vielleicht mehr über die Welt aussagt
    als über mich.


  • Kapitel 9: Ich wurde mein Leben lang verarscht

    Die Wahrheit kam in Form eines Intelligenztests meines Sohnes.
    145.
    Hochbegabt.
    Zwei Werte: 142 und 145.
    Ich fragte die Schulpsychologin, warum.
    Sie zeigte mir den Test.
    Ich fand ihn lächerlich einfach
    und in mir klickte etwas.
    Das kenne ich.
    Sowas Ähnliches hatte ich bei der Bundeswehr gemacht – und damals schon „auffällig“ abgeschlossen.

    Und plötzlich stellte ich die Frage,
    die mein ganzes Leben neu ordnen sollte:

    „Woher hat er das?“

    Ich schrieb meiner Mutter.
    Ich dachte:
    Vielleicht hat sie das Gen,
    vielleicht kommt es von ihr.

    Und dann antwortete sie lapidar:
    „Dein Vater hatte auch über 130. Er war nicht so dumm, wie du immer dachtest.“

    Mein Vater war da schon tot.
    Die Vergangenheit abgeschlossen.
    Die Narrative zementiert.

    Und in diesem Moment
    wurde aus einem Satz ein Schrei:

    „ICH WURDE MEIN LEBEN LANG VERARSCHT.“

    Ich habe Jahrzehnte meines Lebens damit verbracht,
    mich für dümmer, weniger fähig, weniger wert zu halten.
    Ich war immer der ohne Abschluss
    der, der „aus der Reihe tanzt“,
    der, der „nichts durchzieht“,
    der „gescheiterte Hochintelligente“,
    nur dass mir niemand je gesagt hat, dass ich überhaupt hochintelligent bin.

    Vielleicht war’s bequem so.
    Vielleicht war es für die Familie einfacher,
    wenn ich der Schwache war.

    Aber ab dem Moment mit dem Test meines Sohnes wusste ich:

    Ich war nie der Schwache.
    Ich war der, der zu viel sah – und dem niemand helfen konnte, damit klarzukommen.

  • Kapitel 8: Der Dumme mit dem höchsten IQ

    Ich wusste es lange nicht.
    Dass ich nicht dumm war, sondern dass mein Verstand nur nicht in das Raster passte.
    Ich hatte kein Abitur, keine bestandene zehnte Klasse, keinen akademischen Nachweis.
    Ich hatte nur –
    Fragen. Wut. Beobachtungsgabe. Und diese ständige Reibung an der Welt.

    Meine Geschwister machten alle Abitur.
    Meine kleine Schwester, von der man sagte, sie sei die „Dumme“,
    hat ein abgeschlossenes Studium.
    Ich: nicht.

    Mein Bruder warf mir vor, ich würde meine Intelligenz „vor mir hertragen“,
    würde uns alle „für doof erklären“.
    Dabei war das Gegenteil wahr:
    Ich habe mich selbst für bescheuert gehalten.
    Weil ich kein Systemabschluss war.
    Weil ich nicht in der Schule funktionierte.
    Weil ich durch alle Raster fiel.

    Die Ironie:
    Wenn man objektiv misst, wäre ich vielleicht der Intelligenteste von uns.
    Aber das zählt nicht in Familien, in denen Gefühle zählen,
    in denen Loyalität mit Schweigen verwechselt wird,
    und in denen ein schwarzes Schaf nicht clever sein darf –
    weil sonst alle anderen zu fragen beginnen müssten,
    warum es eigentlich schwarz ist.

    Ich bin kein Opfer.
    Aber ich bin auch kein Täter.
    Ich bin jemand,
    der sein Leben in Fragmente sortieren muss,
    weil sonst alles verschwimmt.