Kapitel  79: Halbwahrheiten und Familiengewitter

Ich wurde in Geschichten geboren, in Andeutungen aufgewachsen und von Widersprüchen großgezogen. Die Wahrheit? Die kennt keiner. Aber alle erzählen.

Meine Mutter sagt, ich lüge. Meine Schwester sagt, ich lüge. Und andere lügen über mich. Ich sei ein arbeitsscheuer Hartz-IV-Empfänger, ein Familienfall. Dabei sind es andere, die sich Geschichten zurechtbiegen. Wie die, dass mir je ein Job angeboten worden wäre in der Familie. Wurde mir nicht. Wird erzählt.

Aber auch ich erzähle. Ich erinnere.

Zum Beispiel, dass meine Mutter einst sagte, jemand solle Genscher bitte mitteilen, wenn er sich schon die Haare färbt, dann gefälligst auch die Augenbrauen. Die Nachricht ging durch – der Onkel war Justizminister, die Wege kurz. Später waren die Brauen dann gefärbt. Auch das ist Erinnerung. Auch das ist Politik.

Mein Vater hatte eine Narbe vom Krieg, obwohl er als Kind nur einem amerikanischen Laster mit dem Fahrrad hinterherfuhr. „Deine Mutter weiß nichts vom Krieg“, sagte er. Sie war Jahrgang ’42. Zu jung, angeblich.

Meine Tante sagte, meine Mutter hätte meinen Vater nur geheiratet, weil sie den anderen – den Arzt mit demselben Vornamen – nicht bekommen hätte. Dieselbe Tante fuhr dann mit meiner Mutter und uns Kindern durch München, um Vater beim Fremdgehen zu überführen. Familie. Das heißt: Wahrheit wird mitgefahren, aber selten ans Licht gesetzt.

Meine Großmutter in Hamburg war alkoholkrank. Ihre Geschichten waren lang, wie ihre Nachmittage mit mir. Und ich hörte zu, beim Iberl wie bei ihr. Alte Menschen erzählten mir vom Krieg. Vom „Damals“, das immer wieder so begann:
„Das war halt damals so.“

Und Onkel A.? Der war evangelischer Pfarrer und gleichzeitig Mitglied einer schlagenden Verbindung. Seine Beerdigung war eine Komödie des Verschweigens. Es redete keiner über das, was jeder wusste.

Ich habe so viele Pfarrer in der Familie, dass es fast einen innerkirchlichen Interessenkonflikt gab, als ein Dekan den neuen Ortsgeistlichen besuchen wollte – aber lieber bei „den Schillers“ einkehrte. War halt ein Verwandter. Mein Vater. Der Dekan sein Onkel.

Ich war überall mittendrin – zwischen Wahrheit und Erfindung, Loyalität und Spaltung, frommen Worten und säkularen Vorwürfen.

Und deshalb schreibe ich Kieselsteinchen. Weil niemand googeln kann, was wirklich war. Aber vielleicht fühlen, was wahr klingt.

Familiengewitter und Halbwahrheiten

Ich wurde in Geschichten geboren, in Andeutungen aufgewachsen und von Widersprüchen großgezogen.
Die Wahrheit? Die kennt keiner. Aber alle erzählen.

Meine Mutter sagt, ich lüge.
Meine Schwester sagt, ich lüge.
Und andere lügen über mich.
Ich sei ein arbeitsscheuer Hartz-IV-Empfänger.
So einer, der der Familie peinlich ist, aber nicht verschwinden will.
Dabei sind es andere, die sich Geschichten zurechtbiegen.
Wie die, dass mir je ein Job angeboten worden wäre.
Wurde mir nicht. Wird trotzdem erzählt.

Aber auch ich erzähle.
Ich erinnere.
Und Erinnerungen sind keine Tatsachen.
Sie sind Splitter im Licht.

Zum Beispiel Genscher.
Meine Mutter sagte damals so nebenbei,
jemand solle ihm bitte sagen,
wenn er sich schon die Haare färbt,
dann gefälligst auch die Augenbrauen.
Der Onkel war Justizminister.
Die Wege kurz.
Und ja, irgendwann waren die Brauen dann auch gefärbt.
So liefen Nachrichten früher durch Familien.
Politik wurde bei uns am Küchentisch gemacht,
zwischen Pflaumenkuchen, Eitelkeit und Ironie.

Mein Vater hatte eine Narbe vom Krieg,
obwohl er keinen erlebt hatte.
Ein amerikanischer Laster,
ein Fahrrad,
ein Junge,
der sich dranhängt.
„Deine Mutter weiß nichts vom Krieg“, sagte er.
Jahrgang ’42.
Zu jung, angeblich.
Aber was heißt das schon.
Krieg kommt durch Wände. Auch durch Kinderzimmer.

Meine Tante sagte, meine Mutter habe meinen Vater nur geheiratet,
weil sie den Arzt mit demselben Vornamen nicht bekommen habe.
Und dann fuhr sie mit meiner Mutter und uns Kindern durch München,
um meinem Vater beim Fremdgehen hinterherzuspionieren.
Ich war dabei.
Ich verstand nichts – aber ich spürte alles.
Diese Schweigen-vor-den-Kindern,
diese Lautstärke zwischen den Worten.
Diese schneidende Stille,
wenn Erwachsene sich selbst etwas vormachten.

Meine Großmutter in Hamburg war alkoholkrank.
Ich mochte sie.
Wir redeten stundenlang.
Sie erzählte Geschichten, die aus dem Krieg rochen.
Nicht alle stimmten.
Aber alle waren wahr – auf ihre Art.

Ich hörte zu.
Ich war gut darin.
Beim Iberl.
In den Kneipen der alten Männer.
In den Wohnungen der alten Frauen.
Immer wieder dieser Satz:
„Das war halt damals so.“
Er erklärte nichts.
Aber er bedeutete: Frag nicht weiter.

Und Onkel Adolf?
Evangelischer Pfarrer.
Schlagende Verbindung.
Er starb, und auf der Beerdigung war alles da –
nur keine Wahrheit.
Man redete nicht darüber.
Man wusste es ja.

Ich habe so viele Pfarrer in der Familie,
dass der Dekan vor Ort bei uns Schillers einkehrte,
nicht beim neuen Pfarrer.
War halt ein Verwandter.
Mein Vater.
Der Dekan sein Onkel.
Kirche ist auch Familie.
Und Familie ist auch Politik.
Und beides kann schwer verzeihen.

Ich war immer mittendrin.
Zwischen Heuchelei und Halt.
Zwischen Andacht und Abscheu.
Zwischen Leuten,
die dich lieben –
aber lieber anders hätten.

Ich schreibe Kieselsteinchen,
weil ich mit Steinen besser sprechen kann als mit Menschen.
Und weil niemand googeln kann, was wirklich war.
Aber vielleicht fühlen, was wahr klingt.

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