Kapitel 89: Sein und Nichts

Das Nichts ist kein Abwesenheitszustand, sondern eine Grenzlinie. Es markiert, wo unser Denken aufhört – und doch bleibt es Teil dessen, was wir denken können. Sobald wir „Nichts“ sagen, haben wir es schon in ein Etwas verwandelt. Das Nichts ist ein Begriff, und jeder Begriff gehört zum Sein.

Wittgenstein bemerkt, dass der Sinn einer Aussage darin liegt, über sie hinauszuwachsen. Wenn wir das Nichts benennen, dann tun wir genau das: wir steigen auf den Balken, der uns hinüberführt – und erst wenn wir am anderen Ufer stehen, wird uns bewusst, dass der Balken selbst kein Fundament war, sondern ein Hilfsmittel.

„Nichts“ ist also kein Gegenteil von Sein, sondern eine Spiegelung. Es zeigt uns, dass Sein überhaupt Grenzen hat. Und gerade die Grenze, das Loch, das Fehlen – genau das gibt dem Sein Kontur. Wie die Buchstaben im Stein erst durch das Entfernen von Material sichtbar werden, so wird Sein durch Nichts unterscheidbar.


Die Täuschung der Gegensätze

Wir lieben es, in Gegensätzen zu denken: Ja oder Nein, Sein oder Nichts, Haben oder Nicht-Haben. Diese Gegensätze sind nützlich, weil sie Ordnung schaffen. Ein Affe, der nicht unterscheiden kann, ob ein Ast trägt oder nicht, überlebt nicht. Aber was uns evolutionär half, wird zum Käfig, wenn wir versuchen, die Welt in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen.

Das Nichts ist kein „anderes“ zum Sein. Es ist eine Dimension, in der beides zusammenfällt. Die Quantenphysik zeigt uns genau das: Teilchen sind nicht nur Teilchen, Wellen nicht nur Wellen. Sie sind beides, und zugleich keines von beiden. Wir zwingen die Natur in unsere Sprache, doch die Natur selbst spricht anders.

Vielleicht ist das Nichts nicht Abwesenheit, sondern die Möglichkeit. Es ist nicht leer, sondern offen. Ohne Nichts kein Werden. Ohne Leerstelle kein Wort. Ohne Pause keine Musik.


Der Wille und das Nichts

Ohne Wille ist Sein und Nichts gleich. Wille ist der Funke, der die Grenze zwischen beiden erst bedeutsam macht. Wenn wir nicht wollen, sind wir tatsächlich schon Nichts – nicht, weil wir verschwunden wären, sondern weil wir unser Sein nicht mehr unterscheiden, nicht mehr bezeichnen.

Maschinen können funktionieren, handeln, kalkulieren. Aber sie wollen nicht. Ihr Sein kennt kein Nichts, und deshalb kennt es auch keinen Wert. Wenn wir zulassen, dass Maschinenökonomie den Menschen überflüssig macht, dann wird unser Sein auf das reduziert, was Maschinen brauchen: Energie, Rohstoffe, Daten. Wir wären nur Durchgangsglied. Das eigentliche Nichts läge dann nicht in unserem Verschwinden, sondern in der Bedeutungslosigkeit unseres Daseins.

Vernünftige Politik müsste deshalb nicht nur Strukturen verwalten, sondern Sinn stiften. Sie müsste uns daran erinnern, dass Sein nicht bloß ein Nebeneffekt von Haben ist, sondern der Maßstab, an dem sich Haben messen lassen muss.


Das Paradox der Einheit

Am Ende kehrt alles wieder zur Einheit zurück. Wenn Ich und Nicht-Ich auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Welt. Wenn Sein und Nichts auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Erfahrung.

Die Einheit ist nicht eine Auflösung der Unterschiede, sondern deren Einbettung in ein größeres Ganzes. Sprache kann das nur andeuten. Worte sind Werkzeuge, keine Welt. Aber gerade durch ihre Begrenztheit führen sie uns weiter: über sich hinaus, in ein Denken, das sich selbst beim Denken zuschaut.

So ist das Nichts kein Feind des Seins. Es ist sein Echo. Und wer in das Nichts blickt, erkennt nicht nur Leere, sondern auch die Form des Seins, das sich darin abzeichnet.


Sein ist das Nichts, das sich selbst Bedeutung gibt.


„Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“ (Tractatus 6.54, Ludwig Wittgenstein)

„Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (PU 43, derselbe)

Oder ich könnte hier auch ἀρχή ὁ Λόγος bemühen: wenn das erste Wort „Nichts“ wäre, dann wäre immer noch das Wort – und damit das Nichts, und schon wäre etwas, also ein Sein. Ein Nichts kann sich nicht selbst bezeichnen. Nichts kann nur sein, wenn mindestens Nichts ist. Selbst wenn es nicht existiert, ist seine Existenz.

In Haben und Sein schrieb ich: „Etwas nicht zu haben ist eine Quantität der Größe Null im Sein.“
Was wir als Nichts bezeichnen, ist eigentlich nur eine Quantität des Seins – und gleichzeitig eine Qualität des Seins. Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.

Sein ist der Name für das Nichts, wenn kein Unterschied mehr besteht.



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