Kapitel 94: Der Druck der Bürgerlichkeit

Ich habe Suppe in Lyon gegessen,
als Bettler,
verloren,
hungrig.

Und ich habe erlebt,
wie eine Grundschuld über 27 Millionen Euro gelöscht wurde.
Zahlen, Summen, Dimensionen,
die sich kein Normalbürger vorstellen kann.

Ich war unten.
Ich war oben.
Ich habe beides gesehen.


Die Bürgerlichkeit ist gnadenlos.
Sie duldet keinen Absturz.
Wer fällt, soll unsichtbar werden.
Oder tot.

Ich las Nachrichten:
ein Handelsunternehmer, Phoenix-Konzern,
erschoss sich.
Ein Softwareingenieur,
fast eine halbe Million Abfindung.
Tilgte das Häuschen.
Dann Arbeitslosigkeit.
Dann das Ende.

„Du erinnerst dich an Klaus?“
Ja.
Und nein.
Denn er ist nicht mehr.


Andere wählten die Aggression.
Ein Mann, hochintelligent,
IQ über 140,
der Bürokratie nicht ertrug.
Er tötete den Leiter eines Arbeitsamtes.
Nicht aus Bosheit –
aus Zerreißen.

Ein anderer, in Wien,
mit dem ich arbeitete.
Später verbrannte er sich.
Aus Protest.
Und doch brachte es nichts.
Vergessen im Rauschen.


Was mich wundert:
Nicht die Armen,
die am Boden liegen,
nicht die Flaschensammler.
Sondern die Bürgerlichen,
die den Absturz nicht überleben.

Als gäbe es kein Leben nach dem Verlust.
Als wäre das Ende des Status
das Ende des Seins.

Mir erscheint das dumm.
Weil das Leben immer weitergeht.
Auch im Nichts.
Auch im Bruch.


Ich habe gelernt:
Der Druck der Bürgerlichkeit
ist härter als Hunger.
Härter als Kälte.
Härter als Scham.

Weil er tötet.
Leise.
Unbemerkt.
Vergessen.



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