Kieselsteine

  • Kapitel 89: Sein und Nichts

    Das Nichts ist kein Abwesenheitszustand, sondern eine Grenzlinie. Es markiert, wo unser Denken aufhört – und doch bleibt es Teil dessen, was wir denken können. Sobald wir „Nichts“ sagen, haben wir es schon in ein Etwas verwandelt. Das Nichts ist ein Begriff, und jeder Begriff gehört zum Sein.

    Wittgenstein bemerkt, dass der Sinn einer Aussage darin liegt, über sie hinauszuwachsen. Wenn wir das Nichts benennen, dann tun wir genau das: wir steigen auf den Balken, der uns hinüberführt – und erst wenn wir am anderen Ufer stehen, wird uns bewusst, dass der Balken selbst kein Fundament war, sondern ein Hilfsmittel.

    „Nichts“ ist also kein Gegenteil von Sein, sondern eine Spiegelung. Es zeigt uns, dass Sein überhaupt Grenzen hat. Und gerade die Grenze, das Loch, das Fehlen – genau das gibt dem Sein Kontur. Wie die Buchstaben im Stein erst durch das Entfernen von Material sichtbar werden, so wird Sein durch Nichts unterscheidbar.


    Die Täuschung der Gegensätze

    Wir lieben es, in Gegensätzen zu denken: Ja oder Nein, Sein oder Nichts, Haben oder Nicht-Haben. Diese Gegensätze sind nützlich, weil sie Ordnung schaffen. Ein Affe, der nicht unterscheiden kann, ob ein Ast trägt oder nicht, überlebt nicht. Aber was uns evolutionär half, wird zum Käfig, wenn wir versuchen, die Welt in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen.

    Das Nichts ist kein „anderes“ zum Sein. Es ist eine Dimension, in der beides zusammenfällt. Die Quantenphysik zeigt uns genau das: Teilchen sind nicht nur Teilchen, Wellen nicht nur Wellen. Sie sind beides, und zugleich keines von beiden. Wir zwingen die Natur in unsere Sprache, doch die Natur selbst spricht anders.

    Vielleicht ist das Nichts nicht Abwesenheit, sondern die Möglichkeit. Es ist nicht leer, sondern offen. Ohne Nichts kein Werden. Ohne Leerstelle kein Wort. Ohne Pause keine Musik.


    Der Wille und das Nichts

    Ohne Wille ist Sein und Nichts gleich. Wille ist der Funke, der die Grenze zwischen beiden erst bedeutsam macht. Wenn wir nicht wollen, sind wir tatsächlich schon Nichts – nicht, weil wir verschwunden wären, sondern weil wir unser Sein nicht mehr unterscheiden, nicht mehr bezeichnen.

    Maschinen können funktionieren, handeln, kalkulieren. Aber sie wollen nicht. Ihr Sein kennt kein Nichts, und deshalb kennt es auch keinen Wert. Wenn wir zulassen, dass Maschinenökonomie den Menschen überflüssig macht, dann wird unser Sein auf das reduziert, was Maschinen brauchen: Energie, Rohstoffe, Daten. Wir wären nur Durchgangsglied. Das eigentliche Nichts läge dann nicht in unserem Verschwinden, sondern in der Bedeutungslosigkeit unseres Daseins.

    Vernünftige Politik müsste deshalb nicht nur Strukturen verwalten, sondern Sinn stiften. Sie müsste uns daran erinnern, dass Sein nicht bloß ein Nebeneffekt von Haben ist, sondern der Maßstab, an dem sich Haben messen lassen muss.


    Das Paradox der Einheit

    Am Ende kehrt alles wieder zur Einheit zurück. Wenn Ich und Nicht-Ich auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Welt. Wenn Sein und Nichts auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Erfahrung.

    Die Einheit ist nicht eine Auflösung der Unterschiede, sondern deren Einbettung in ein größeres Ganzes. Sprache kann das nur andeuten. Worte sind Werkzeuge, keine Welt. Aber gerade durch ihre Begrenztheit führen sie uns weiter: über sich hinaus, in ein Denken, das sich selbst beim Denken zuschaut.

    So ist das Nichts kein Feind des Seins. Es ist sein Echo. Und wer in das Nichts blickt, erkennt nicht nur Leere, sondern auch die Form des Seins, das sich darin abzeichnet.


    Sein ist das Nichts, das sich selbst Bedeutung gibt.


    „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“ (Tractatus 6.54, Ludwig Wittgenstein)

    „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (PU 43, derselbe)

    Oder ich könnte hier auch ἀρχή ὁ Λόγος bemühen: wenn das erste Wort „Nichts“ wäre, dann wäre immer noch das Wort – und damit das Nichts, und schon wäre etwas, also ein Sein. Ein Nichts kann sich nicht selbst bezeichnen. Nichts kann nur sein, wenn mindestens Nichts ist. Selbst wenn es nicht existiert, ist seine Existenz.

    In Haben und Sein schrieb ich: „Etwas nicht zu haben ist eine Quantität der Größe Null im Sein.“
    Was wir als Nichts bezeichnen, ist eigentlich nur eine Quantität des Seins – und gleichzeitig eine Qualität des Seins. Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.

    Sein ist der Name für das Nichts, wenn kein Unterschied mehr besteht.



  • Kapitel 88: Haben und Sein

    Erich Fromm unterscheidet zwischen Haben und Sein.
    Für mich ist das kein Werturteil. Es ist Beobachtung.

    Ohne Wert haben wir kein Maß. Ohne Maß haben wir keinen Wert.
    Haben und Sein wirken wie Gegensätze – und doch sind sie untrennbar.
    Das Haben gleicht der Quantität, das Sein der Qualität.

    Wer nur hat, ohne zu sein, verpasst die Dimension der Welt.
    Wer nur ist, ohne zu haben, bleibt untauglich für die Realität.
    Selbst das Nichtsein ist ein Sein in dieser Welt.
    Selbst das Nichthaben ist Bedingung dafür, etwas zu haben.

    Ein Vitamin-C-Mangel zeigt es: das Sein des Vitamins ist Voraussetzung, um den Mangel zu erkennen.
    Die Quantität Null existiert nicht ohne die Qualität des Seins.
    Und jede Qualität ist untrennbar mit einer Quantität verbunden – selbst wenn sie minimal, selbst wenn sie „nichtig“ erscheint.

    Unsere Gedanken gehören dieser Welt.
    Unsere Vorstellungen vom Urknall, von der Vorwelt, von der Nachwelt – sie sind Gedanken innerhalb der Welt, nicht außerhalb.
    Wir können die Welt nicht überschreiten.
    Wir können sie nur beschreiben – und die Beschreibung ist Teil derselben Welt.

    Doch in der Gesellschaft des „Habens“ wird das Sein vergessen.
    Buchhaltung kennt Quantität, Börsenkurse kennen Zahlen.
    Aber die Würde des Menschen? Die Qualität des Lebens? Das Messen von Arten, die Vernichtung von Lebensräumen?
    All das bleibt unsichtbar, weil es in der Quantität keinen Platz hat.

    Ohne Maß haben wir keinen Wert.
    Eine Quantität ist ohne Qualität nicht bestimmbar.
    Haben ist ohne Sein nichts.
    Und wer sich nur an Zahlen orientiert, wer nur „hat“, vergisst:
    Der wahre Wert liegt im Sein.



  • Kapitel 87: Maß, Wert und Fragen

    Qualität ohne Quantität?
    Quantität ohne Qualität?
    Beides untrennbar, einander bedingend,
    wie jede unserer Aussagen ein Teil dieser Welt,
    unverzichtbar und zugleich begrenzt.

    Jede Unterscheidung braucht mindestens etwas,
    selbst die Null ist nicht leer,
    selbst das Nichts trägt die Struktur der Welt.

    Und über all dem,
    immer noch in meinem Denken,
    war der Mathelehrer von damals.
    Über vierzig Jahre her,
    mit den Geschichten aus Kriegsgefangenschaft,
    mit Otto Hahn im Lager,
    immer noch präsent.

    Er, der meine Fragen nicht verbot,
    sondern sie spiegelte, erweiterte:
    „Wenn du eine Linie in unendlich kleine Teile teilst – was bleibt?“
    „Und die Fläche? In unendlich viele Linien?“
    „Und der Raum? In unendlich viele Flächen?“

    Er lehrte mich, dass Fragen
    nicht zu stoppen sind,
    auch wenn die Welt Regeln vorgibt,
    auch wenn die Lehrpläne Befehle senden:
    „Lern das, nicht mehr.“

    Heute verstehe ich:
    Maß und Wert, Qualität und Quantität,
    alles hängt zusammen, untrennbar,
    wie die Fragen, die damals frei waren,
    wie die Antworten, die nur in mir wuchsen.

    Die Welt kann uns nicht verlassen,
    nicht einmal in Gedanken.
    Und der Lehrer?
    Er war der erste Knotenpunkt,
    der mir zeigte, dass Denken
    kein Maß kennt, keine Grenze,
    außer denen, die wir selbst anerkennen.

    Wert

    Maß und Wert, Qualität und Quantität.
    Alles hängt zusammen. Untrennbar, aber nie objektiv.
    Jede Entscheidung ist Gewicht. Jede Untat zeigt, was wir nicht wählen.

    Wer schweigt, wenn andere leiden,
    wer wegschaut, wenn Freiheit zerbricht,
    wer sich nicht bewusst für Menschlichkeit entscheidet,
    verlässt sie – Stück für Stück.

    Werte entstehen nicht von selbst.
    Wir müssen sie setzen.
    Wir müssen wählen.
    Und wir müssen sie verteidigen.

    Denn verlieren wir sie,
    verliert die Welt mit uns.




  • Kapitel 86: Fragen verboten

    Ich habe keinen Schulabschluss.
    Zehnte Klasse. Gymnasium. Bayern.
    Fünf in Latein.
    Fünf in Englisch.
    Mittlere Reife? Verwehrt.

    In der Realschule hätte es keine Lateinstunden gegeben.
    An der Hauptschule schon gar nicht.
    Doch das interessierte niemanden.
    Deutsche Bürokratie: gnadenlos, stur, gleichgültig.

    Ich war kein interessierter Schüler.
    Ich war ein Kind mit Fragen.
    Die falschen Fragen.

    Einige Lehrer sahen mehr.

    Da war Mendel, Mathelehrer.
    Kriegserfahrung, Otto Hahn im Lager.
    Er hörte meine Fragen – und stellte Gegenfragen:
    „Wenn du eine Linie in unendlich kleine Teile teilst, was bleibt?“
    „Und die Fläche? In unendlich viele Linien?“
    „Und der Raum? In unendlich viele Flächen?“

    Er ließ mich sehen, wie weit Denken gehen kann.
    Wie groß die Welt ist, wenn man nur fragt.

    Und doch: die Null.
    Das Teilungsverbot.
    Warum?
    Man darf nicht fragen.
    Kinder fragen nicht.
    „Lern das!“
    „Das steht im Lehrplan.“
    Alles andere: verboten.

    Ich fragte weiter.
    Still, im Kopf.
    Im Herzen.
    Warum darf ich nicht teilen?



    Warum nicht durch Null?
    Warum nicht alles, was mich interessiert?

    Später, nach der Schulzeit:
    Teilerfreie Ringe.
    Null-Teilung.
    Problem gelöst.
    Aber damals?
    Damals durfte ich nur gehorchen.
    Dürfte nicht hinterfragen.
    Dürfte nicht verstehen.

    Ich war das Kind mit den falschen Fragen.
    Das Kind, das verstand, bevor es durfte.
    Das Kind, das fragte, obwohl niemand antworten wollte.
    Und das die Welt trotzdem beobachtete.
    Stumm, wachsam, lernend.

    Heute weiß ich:
    Manchmal sind die falschen Fragen die richtigen.
    Manchmal zeigt das Kind, das fragt, den Weg.
    Auch wenn niemand ihm folgt.



  • Kapitel 85: Schrott und Gold

    Ich verschlang alles.
    Erich von Däniken.
    Das Philadelphia Experiment.
    Flugzeuge, verschwunden im Bermuda-Dreieck.
    Esoterik, UFOs, Unsinn.
    Haltet das von euren Kindern fern.
    Es ist Mist.

    Aber daneben:
    Albert Einstein, Relativität für Kinder.
    John F. Kennedy, Zivilcourage.
    Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus.
    Das Original. Keine Abhandlungen. Keine Zusammenfassungen.

    Meine Schwester galt als Leseratte.
    Ich nicht.
    Und doch verschlang ich alles, was in Reichweite war.

    Schund und Meisterwerke.
    Bullshit und Wahrheit.
    Worte, die brannten.
    Ideen, die formten.
    Fragmente, die mir Werkzeuge gaben.

    Werkzeuge, um zu denken.
    Zu verstehen.
    Zu begreifen, wie diese Welt tickt.



  • Kapitel 84: Ich bin ok, du bist ok – und noch viel mehr

    Ich verschlang Thomas A. Harris in den Siebzigern.
    „Ich bin ok, du bist ok.“
    Nicht fremd. Nicht befremdlich.
    Normal. Selbstverständlich.

    Wie Handlesen, das Buch meiner Mutter.
    Wie jede Zeile, die mich früh zum Staunen brachte.
    Karl May, Edgar Wallace – die Gesamtausgaben, geschenkt an Geburtstagen.
    Der Lateinlehrer, der mir Karl Marx zum Lesen gab.
    Perls fiel mir in Wien in die Hände, Watzlawick in irgendeiner Bibliothek, Simone Weil, und natürlich die Bibel – das Neue Testament, Fridolin Stier, mehrfach gelesen.

    All das war mein Werkzeugkasten.
    Nicht Dekoration. Nicht bloße Theorie.
    Sondern Grundstock, um die Welt zu verstehen,
    um zu sehen, wie Menschen denken, fühlen, handeln, glauben.
    Jedes Buch, jede Idee, jede Theorie half mir, zu begreifen, wer ich war, wer ich sein konnte, und wie die Welt tickt.

    Wie Handlesen damals: halb Spiel, halb Zauber, halb Bullshit.
    Ich lernte Muster zu erkennen,
    Worte zu deuten, Bedeutungen zu lesen, wo andere nur Oberfläche sahen.
    Regeln, Theorien, Strategien – Werkzeuge, um mich selbst und andere zu verstehen.

    Ich war ein Kind mit einem Werkzeugkasten, den ich beherrschte.
    Nicht aus Böswilligkeit, nicht aus Zweifel.
    Aus Neugier.
    Aus dem Bedürfnis, die Welt zu durchdringen.
    Aus dem Wunsch, mir selbst zu erlauben:
    Ja, ich bin ok, du bist ok – und das ist genug.

    Und all diese Bücher, Lehrer, Zitate, Theorien – sie formten mich, bevor ich es wusste.
    Sie gaben mir Orientierung, auch wenn die Welt chaotisch war,
    auch wenn das Leben grausam, unfair, unverständlich erschien.
    Jeder Satz, jede Idee, jeder Gedanke wurde ein Kieselstein,
    auf dem ich stehen konnte, wenn alles andere zerbrach.



  • Kapitel 83: Steinchen um Steinchen

    Mozart starb verschuldet, seine Musik hallt trotzdem.
    Van Gogh malte die Sterne, obwohl niemand seine Bilder kaufte.
    Kafka schrieb nachts, während tagsüber Bürokratie ihn erstickte.
    Frida Kahlo kämpfte, taub von Schmerz und Armut, und malte ihre Welt.
    Beethoven, taub und gequält, schrieb die Neunte.

    Jede dieser Stimmen war ein Kieselstein in meiner Hand.
    Ich ließ sie rollen: durch Social Media, durch die Zeit, durch mich.
    Jeder Post: ein Echo, ein Funke, ein Aufschrei gegen Gleichgültigkeit.

    Dann kamen die Verfolgten:
    Anne Frank schrieb im Versteck, Paul Celan in der Trauer, Wolfgang Borchert im Hunger.
    Sophie Scholl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky –
    Zerstörte Leben, die uns Geschichten, Gedichte, Ideen vorenthielten.
    Wieviel Kultur stirbt, weil Menschen zu früh verstummen?

    Und die Autokraten:
    Anna Politkowskaja, Boris Nemzow, Sergej Magnitskij, Natalja Estemirowa.
    Osip Mandelstam, Isaak Babel, Wassili Grossman, Lew Kopelew.
    Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Robert Havemann, Christa Wolf.
    Ihre Worte, ihre Werke, ihre Visionen –
    gefangen, unterdrückt, vernichtet.

    Die Rebellen dann:
    Gandhi, aus dem Zug geworfen.
    Rosa Parks, die den Sitz nicht räumte.
    Mandela, 27 Jahre hinter Gittern.
    Martin Luther King, Sophie Scholl, Emiliano Zapata, Patrice Lumumba.
    Che Guevara, Berta Cáceres, Malala Yousafzai, Jan Palach, Vaclav Havel.
    Jeder ein Kieselstein, der Funken schlägt, der auf Wellen tanzt,
    obwohl die Welt ihm Hindernisse setzt.

    Ich stellte die Posts online.
    Die meisten ungelesen.
    Ungelesen und unerhört, wie so viele Geschichten davor.

    Und doch:
    Die Kieselsteine liegen da.
    Still, schwer, hart.
    Sie erinnern mich daran, warum ich schreibe.
    Nicht für den Applaus.
    Nicht für die Sichtbarkeit.
    Sondern um zu sehen.
    Um zu zählen.
    Um das zu bewahren, was sonst verloren wäre.

    Ich sammelte weiter Kieselsteine.
    Und während sie leise rollen, spüre ich:
    Manchmal reicht ein kleiner Stein, um eine Lawine anzustoßen.


  • Kapitel 82: Stimmen der Kieselsteine

    Ich setzte mich hin und begann zu posten.
    Nicht in der Hoffnung auf Beifall, auf Likes oder auf Echo.
    Sondern um die Stimmen derer zu ordnen, die mich geprägt hatten.
    Zweihundert Nachrichten in zwölf Stunden, 280 Zeichen pro Atemzug.

    Mozart sagte: „Liebe! Liebe! Liebe!“ –
    ich spürte die Sehnsucht nach dem, was ein Genie ausmacht.

    Van Gogh träumte seine Bilder.
    Ich malte meine Gedanken in Tweets.
    Meine Träume auf den Bildschirm.

    Kafka schlug die Axt ins Eis:
    „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
    Und ich wollte mit jedem Post eine kleine Welle schlagen.

    Frida Kahlo flüsterte:
    „Wozu Füße, wenn ich Flügel habe?“
    Und ich setzte meinen Fuß in die virtuelle Welt,
    aber meine Gedanken flogen weiter.

    Emily Dickinson sang von Hoffnung,
    Bach von Arbeit, Beethoven von Offenbarung.
    Und all diese Stimmen wurden zu einer Melodie,
    die niemand hörte,
    aber die in mir wuchs.

    Ich erinnerte mich an Anne Frank,
    Paul Celan, Sophie Scholl, Wolfgang Borchert.
    An Menschen, die in Terror und Gewalt noch einen Atemzug machten,
    die standen, auch wenn alles zerbrach.

    Und dann die Rebellen, Gandhi, Mandela, Rosa Parks, Che, Malala.
    Ihre Worte wie Kieselsteine in meiner Hand.
    Jede Silbe, jede Wendung, ein kleiner Schlag,
    ein Hinweis, dass Widerstand, Liebe, Mut, Hoffnung nicht verhandelbar sind.

    Ich dachte an die Armen, die Helfer, die Unbeachteten:
    Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Florence Nightingale.
    Sie sprachen nicht zu mir,
    aber ich hörte sie.
    Jeder Satz ein Fingerzeig: Handle. Jetzt. Immer wieder.

    Umberto Eco warnte: „Sprich nur, wenn du verstanden hast.“
    Feynman lachte: „Surely you’re joking!“
    Erich Fromm unterschied reife Liebe von Bedürftigkeit,
    Perls machte klar: jeder lebt sein eigenes Leben.

    Paul Watzlawick, Harris – sie alle flüsterten mir über die Jahre hinweg:
    „Kommuniziere. Sei OK. Sei Mensch.“

    Ich spürte, wie all diese Stimmen, diese Steine,
    sich in mir stapelten,
    schwollen zu einem Fluss, der durch die Gegenwart jagte.
    Meine Posts – flüchtige Wellen in der unendlichen digitalen See.
    Die meisten ungelesen, ungehört.
    Aber sie existierten.

    Und das war genug.
    Nicht für andere.
    Für mich.
    Jeder Kiesel ein Lehrer, ein Warnruf, ein Trost.
    Jedes Echo, das ausblieb, zeigte mir nur, dass die Steine ihren eigenen Weg gehen.

    Ich sammelte weiter Kieselsteine.
    Die Stimmen bleiben.
    Ich auch.


  • Kapitel 81: Ungelesen und Unerhört

    Ich habe Texte geschrieben, die nie jemand gelesen hat.

    Nicht, weil sie schlecht waren. Sondern weil sie nicht ins Timing passten. Nicht in die Inbox. Nicht ins Interesse. Nicht in den Moment, in dem jemand bereit gewesen wäre, sie wirklich zu lesen.

    Ich habe Briefe geschrieben, in denen ich mich geöffnet habe – zu viel, zu echt, zu ungeschützt. Und ich habe sie abgeschickt. Absenden gedrückt. Und dann: nichts. Kein „Danke für deine Worte“. Kein „Ich melde mich bald“. Nur Schweigen. Manchmal digital, manchmal menschlich. Aber immer endgültig.

    Es ist ein seltsames Gefühl, sich mitzuteilen – und im Nichts zu landen. Nicht einmal ein Echo. Nur Leere.

    Ich habe Geschichten erzählt, in denen Menschen vorkamen, die noch lebten. Und die sie vielleicht irgendwann hätten lesen sollen. Als Angebot. Als Versuch der Brücke. Aber ich wusste schon beim Schreiben: Sie werden es nicht tun. Sie werden es nicht lesen. Und wenn doch, dann werden sie es nicht erkennen. Nicht sich. Nicht mich.

    Ich habe Reden gehalten, bei denen ich spürte: Das ist gerade wichtig. Das ist gerade größer als ich. Und dann wurde nicht ich zitiert, sondern jemand, der lauter war. Oder schöner. Oder bekannter. Oder politisch anschlussfähiger.

    Ich habe Inhalte geschrieben, die später von anderen geklaut wurden. Nicht wörtlich. Aber in der Idee. In der Haltung. Im Impuls. Und ich konnte nichts tun, außer zusehen, wie jemand Applaus bekam für etwas, das ich mir aus der Seele geschnitten hatte.

    Es gibt Sätze, für die man Jahre braucht. Und dann verschwinden sie im Scrollen.

    Ich weiß, dass ich gelesen werde. Aber ich weiß auch, dass ich oft nicht verstanden werde. Weil ich nicht schreibe, um zu gefallen. Sondern um zu überleben.

    Manche schreiben Tagebuch. Ich schreibe Kieselsteine.

    Und manchmal werden sie gelesen.

    Aber meistens: nicht.

    Ich habe geschrieben.
    Mit Herz. Mit Hirn.
    Mit allem, was ich hatte.

    Und niemand hat geantwortet.

    Nicht, weil es schlecht war.
    Sondern weil es nicht passte.
    Nicht in den Moment,
    nicht in das Interesse,
    nicht in die Inbox.

    Ich habe mich geöffnet –
    zu früh, zu nackt, zu ehrlich.
    Ich habe Briefe geschrieben,
    auf „Senden“ gedrückt
    und auf nichts gewartet –
    außer dem Schweigen.

    Ich schrieb, als wäre Zuhören noch möglich.
    War es nicht.

    Manche meiner Sätze
    sind verschwunden im Scrollen.
    Andere wurden kopiert.
    Nicht wörtlich –
    aber in Haltung, Impuls, Idee.
    Und plötzlich war es nicht mehr meins.
    Nur noch: applausfähig.

    Ich habe einmal Geschichten verbrannt.
    Wirklich verbrannt.
    In der Toilettenschüssel,
    schwarzer Rauch aus dem Fenster.
    Nicht aus Trotz.
    Aus Schmerz.
    Die Ablehnung war älter als die Worte.

    Ich war das Kind,
    das durch Null teilen wollte
    und nicht verstand,
    warum das verboten war.

    Das Kind,
    das Fragen stellte,
    die Erwachsene irritierten.

    Ein Mathematiklehrer antwortete mit Gegenfragen.
    Ein Philosoph fragte:
    „Weißt du, was Wert ist?“
    Ich sagte nein.
    Er wandte sich ab.
    Ich hätte ja sagen sollen.
    Vielleicht hat er es trotzdem gewusst.

    Ich habe nie die Anerkennung bekommen,
    aber oft die Idee geliefert.
    Nie das Zitat,
    aber den Anstoß.

    Ich wollte geliebt werden.
    Aber ich war zu unbequem,
    zu früh,
    zu scharf,
    zu wahr.

    Ich bin ungelesen.
    Ich bin unerhört.

    Aber ich schreibe.
    Weil ich muss.
    Weil ich überleben will.
    Weil Kieselsteine
    nicht schreien,
    aber klingen –
    wenn man sie hört.

  • Kapitel 80: Küchengespräche und Mutterschäden


    Die Küche war immer ein Ort für Gespräche.
    Damals, im Sechspersonenhaushalt – eigentlich sieben, mit Kindermädchen.
    Und jetzt, gerade eben, mit meiner Frau.

    Es war in der Küche, als meiner Mutter die Hand ausrutschte.
    Ich war siebzehn oder achtzehn.
    Ich sah die Hand kommen, versteifte den Hals.
    Sie schlug – aber traf Beton.
    Meine Wange brannte, sicher,
    aber mehr noch ihre Hand.
    Wie sie sie hielt danach, der Schmerz.
    Ich hab’s gesehen. Es tat ihr weh.
    Mir weniger.
    Nicht weil ich stark war –
    sondern weil ich abgestumpft war.
    Weil ich wusste: Das ist nur die Oberfläche.

    Meine Mutter sagte mal:
    „Entweder wir werden mal beste Freunde – oder ewige Feinde.“
    Es wurde Feindschaft.
    Nicht aus einem Streit heraus.
    Sondern weil sie stark war. Dominant.
    Und ich stur.
    Stur mit meiner eigenen Sicht auf die Welt.

    Meine Schwester sagte, ich sei dumm.
    Ich könnte es doch gut haben.
    Aber ich verkaufe mich nicht.
    Ich ordne mich nicht unter.
    Ich bin enterbt.
    Die Schenkungen sind durch.
    Das Elternhaus ging an meine kleine Schwester.
    Der kleine Bruder: ausgezahlt.
    Ich: nichts.
    Dafür mich selbst behalten.

    Und ja –
    der Schaden, den eine Mutter anrichten kann,
    ist quasi grundgesetzlich geschützt.
    Mütterlichkeit als Heiligtum.
    Auch wenn sie Gift sein kann.

    Meine Frau –
    hat ihren Doktor in Slawistik gemacht,
    später auf Kinderpflegerin umgeschult.
    Und heute sprachen wir darüber.
    Über den Schaden,
    den eine Mutter anrichten kann.

    Sie sagte:
    „Auch wenn man’s als Erzieherin sieht –
    nicht immer kann man eingreifen.“
    Weil: Datenschutz.
    Weil: Elternrecht.
    Weil: Privatheit.

    Ich:
    „Aber das ist doch eine Rechtsgüterabwägung!
    Schaden darf nicht grenzenlos sein!“
    Sie:
    „In der Praxis zählt was anderes.“

    Und sie weiß das.
    Sie ist auch elterngeschädigt.
    Sie hat ein feines Gespür,
    wenn Mütter mehr reißen als halten.

    Meine Mutter hat mich nie – bis auf das eine Mal – geschlagen.
    Im Gegensatz zu meinem Vater.
    Der trat mich einmal im ersten Lebensjahr,
    später noch einmal, mit sechs.
    Danach nie wieder.

    Aber:
    Schläge sind nicht das Schlimmste.
    Nicht umarmt zu werden – das ist schlimmer.
    Nicht gesehen zu werden.
    Nicht gemeint zu sein.

    Meine Frau fragte:
    „Darf ich das zu einem Kieselstein machen?“
    Ich lachte.
    „Klar doch.
    Wenn wir über intrinsisch und immanent in der S-Bahn diskutieren –
    dann darfst du auch das.
    Kieselsteinchen entstehen überall.“