Meine Frau kommt aus Rostov am Don.
Ein wohlbehütetes Professorenkind.
Sie durfte nichts.
Ihre Eltern hielten sie fern von allem,
was in Russland gefährlich sein könnte.
Sie lernte Deutsch schon mit vier, fünf Jahren –
von ihrem Vater.
Er war nicht streng, intellektuell,
aber ein Mann der Philosophie in der Sowjetunion.
Umarmungen gab es mehr als in meiner Familie.
In meiner Familie war Zuwendung Leistung.
Und dann kam ich.
Wild.
Ohne Schulabschluss.
Ohne Schutzgitter.
Ich weiß nicht mehr,
wie oft ich von einem Baum gefallen bin.
Aber nie ist mir etwas passiert.
Einmal presste es mir die Luft aus den Lungen,
ich rang nach Atem –
und stand doch wieder auf.
Im Elsass kletterte ich im Jugendkurs
einen Sechser hoch.
Ohne Seil.
Einfach so.
Der Kletterlehrer schrie mich an:
„Wo hast du das gelernt?“
„Auf Bäumen.“
Er fasste sich ans Herz.
Ich verstand erst viel später,
als ich selbst Vater war,
was das für ein Schock gewesen sein musste.
So unterschiedlich waren wir:
Sie – die Behütete.
Ich – der Ungeschützte.
Und doch ergänzten wir uns.
Einmal erzählte sie mir einen Witz,
den sie von ihrem Vater kannte.
Ein Philosoph sieht auf dem Markt ein Hähnchen.
Tot. Gerupft.
Er sagt:
„Dieses Hähnchen ist sich selbst gleich
und doch nicht gleich.“
Die Marktfrau schaut ihn an:
„Idiot.“
Und lacht.
Und wir lachen bis heute.
Denn in diesem Satz liegt die ganze Tiefe:
das Hähnchen, das einmal lebte,
und das Hähnchen, das nun auf dem Markt liegt.
Gleich und nicht gleich.
So lacht nur ein russischer Intellektueller.
Und so lacht meine Frau mit mir.
Nicht, weil ich der grobe Russe wäre.
Sondern,
weil sie in mir den Russen des 18. Jahrhunderts sieht:
den Denker,
den Suchenden,
den mit der Seele,
die noch immer über Leben und Tod nachsinnt.
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