Die öffentliche Debatte über die Finanzierung des Sozialstaats leidet unter einem systemischen Zerrbild. Der Fokus richtet sich reflexartig auf bedarfsorientierte Leistungen wie Bürgergeld oder Grundsicherung, die als „Kostentreiber“ dargestellt werden. Diese Perspektive verschleiert die kategoriale Asymmetrie der Solidarität: Während die breite Mitte und die unteren Schichten die Hauptlast tragen, sind die höchsten Einkommen über die Beitragsbemessungsgrenze strukturell von einer proportionalen Beteiligung entlastet.
Die Illusion der „unbezahlbaren“ Sozialkosten
Eine nüchterne Analyse des Bundeshaushalts widerlegt die populäre Darstellung. Von den rund 218 Milliarden Euro für „Soziale Sicherung“ im Jahr 2024 entfielen nur etwa 55 Milliarden Euro auf streng bedarfsorientierte Leistungen wie Bürgergeld. Der weitaus größere Teil fließt in universelle Transferleistungen und Zuschüsse zur Sozialversicherung (z.B. Rentenzuschüsse, Kindergeld), die unabhängig vom Einkommen gezahlt werden.
Die politische Debatte über Einsparungen in Millionenhöhe – wie bei der Elterngeld-Kürzung für Spitzenverdiener – erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur bescheiden, sondern symbolisch verzerrt. Sie lenkt vom eigentlichen Finanzierungsproblem ab: der strukturellen Entlastung der Spitze.
Das Szenario der vollen Sozialpflichtigkeit
Das zentrale Privileg der Spitzenverdiener ist die Beitragsbemessungsgrenze (BBG). Sie führt dazu, dass der effektive Beitragssatz zur Sozialversicherung ab einer bestimmten Einkommenshöhe sinkt. Ein Millionär zahlt den gleichen Maximalbeitrag wie ein Oberarzt.
Ein fiktives Szenario macht das Ausmaß dieses Privilegs sichtbar:
- Annahme: Die BBG wird abgeschafft. Das Top-1-Prozent der Einkommensbezieher (Gesamteinkommen: ca. 500 Mrd. Euro/Jahr) zahlt proportional Sozialbeiträge.
- Einnahmepotenzial: Theoretisch könnten so über 200 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich generiert werden (bei kombinierten Beitragssätzen von ca. 40 % für Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung).
- Relation: Dieses Potenzial übersteigt die jährlichen Ausgaben für streng bedarfsorientierte Leistungen (55 Mrd. Euro) um mehr als das Dreifache.
Das kategoriale Privileg der BBG
Die Beitragsbemessungsgrenze ist somit nicht nur ein statistisches Detail, sondern ein kategoriales Privileg. Sie ist der Mechanismus, der hohe Einkommen vom Prinzip der proportionalen Solidarität entbindet und die Lastenverteilung strukturell verzerrt.
Die Debatte über „unbezahlbare Sozialausgaben“ ist daher weniger eine Frage der Gesamtlast als der Verteilung der Lasten. Der politische Reflex, bei den Bedürftigsten zu sparen, ignoriert das weitaus größere finanzielle Potenzial, das in der vollen Beteiligung der Top-Einkommen liegt.
Solidarität oder Selbstbedienung?
Die kategoriale Asymmetrie zeigt: Der Sozialstaat schützt die Spitze der Einkommenspyramide systemisch, anstatt sie vollständig an der Finanzierung zu beteiligen. „Reich ist nicht gleich reich“ bedeutet hier: Nicht jeder obere Einkommensbezieher trägt proportional zu seinen Mitteln bei. Die volle Sozialpflichtigkeit der Spitzenverdiener könnte das soziale Sicherungssystem nicht nur stabilisieren, sondern die Debatte über Sozialausgaben auf eine realistischere und gerechtere Basis stellen. Es geht nicht um die Frage, ob wir uns Solidarität leisten können, sondern wer sich ihr entziehen darf.
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