Kapitel 34 – Kalter Krieg im Tauwetter

Während ich mit 25 Jahren meine Grundausbildung gerade erst überstanden hatte
und endlich meine Sicherheitsfreigabe hatte,
änderte sich die Welt
und wir übten weiter,
als hätte sie das vergessen.

Zweimal während meiner Dienstzeit
wurde die Wehrpflicht verkürzt.
Zweimal bedeutete das:
Kein Raketenschießen auf Kreta.
Die Königsdisziplin der Hawk-Einheiten – gestrichen.
Diejenigen, die noch schießen durften,
gehörten zur Generation vor uns.
Wir übten nur mit Betondummys
und hörten uns stattdessen die Geschichten
der Luftwaffenpiloten an,
die nach der Wende erstmals mit ehemaligen MIGs fliegen durften.
Aus „Feindeshand“ wurde plötzlich Technikspielzeug,
aus Abschreckung ein Abenteuerbericht.

Es war eine merkwürdige Zeit.
Wir probten immer noch den Ernstfall –
voll fokussiert auf „Rot gegen Blau“,
als wäre der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen.
Tatsächlich war unsere Stellung nahe der DDR-Grenze,
die es im Grunde nicht mehr gab.
Im Kartenmaterial war sie noch verzeichnet,
in den Köpfen mancher Ausbilder auch –
aber auf der Straße war sie weg.

Und doch – es war kein Spiel.

Denn während wir übten,
zog am Horizont ein anderer Krieg auf.
Im Fernsehen flackerten die Bilder vom Golfkrieg,
und eine Schwestereinheit wurde tatsächlich
in die Türkei verlegt
mitten ins Krisengebiet.
Unsere Hawk-Raketen
ein Relikt aus den 50er Jahren,
ja, aber nicht nutzlos.
Die Patriots in Ingolstadt waren zwar neuer,
moderner, automatisierter –
aber wenn es ernst wurde,
würde auch unsere Stellung zählen.

Drill war also kein Anachronismus,
sondern Überlebensstrategie.

Unsere mobilen Abschussrampen
waren ständig in Bewegung.
Betondummys rauf –
Kabel verlegen –
Startsimulation –
und wieder abbauen,
in Rekordzeit.

Warum?

Weil jeder Abschuss eine Signatur am Himmel hinterlässt.
Ein greller Blitz –
und irgendwo in der Ferne
wird ein Gegner auf diesen Punkt eine Rakete programmieren,
die schneller ist als unser nächster Kaffee.
Deshalb das Mantra:
„Abschießen. Abbauen. Weg sein.“
Im besten Fall in unter 30 Minuten.
Einmal schafften wir es in 27
unser Rekord.

Die Staffel wurde dabei stets gespalten:
Eine Gruppe schießt,
die andere packt schon ein
und verlegt ins Nördlinger Ries,
bereit zum nächsten Einsatz.

Der Begriff „Stellungskrieg“ war bei uns kein festgefahrener Zustand,
sondern ein hochmobiles Puzzle
ständig auf Achse, ständig bereit,
ohne zu wissen, ob der Gegner,
den wir jeden Tag übten,
überhaupt noch existierte.

Denn in Wahrheit waren wir längst
aus der Zeit gefallen.

Die Mauer war weg.
Die Welt sortierte sich neu.
Aber unser Raketenregiment
spielte das Spiel noch zu Ende,
weil niemand den Text für den neuen Akt
schon fertig geschrieben hatte.

Und so übten wir weiter,
als wäre Gorbi nur ein Gerücht
und Kreta ein fernes Paradies,
das wir nie sehen würden.



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