Kapitel 4: Das Leben ist nicht fair

Ich war auf dem Chor-Internat. Nach außen: Hochkultur, Disziplin, Gottesdienste, Konzerte. Wir sangen Bach, Mendelssohn, sakrale Klangwelten. Ich war im Alt, später im Tenor. Nach innen: ganz andere Töne.

Es gab Missbrauch. Von Lehrern an Schülern. Und auch untereinander. Es war kein Ort außerhalb der Gewalt, sondern ein System, das sie kaschierte. Es wurde nicht gesprochen. Nur gemunkelt. Verdrängt. Wir wussten es. Und keiner wusste, wie man damit umgeht. Wir waren Kinder in einer Leistungsgesellschaft, die sich selbst betrog.

Neben mir saßen Aussiedler, Problemkinder, die Vergessenen. Max war einer von ihnen. Wütend, wild, unberechenbar. Eines Tages ließ er mich mitfahren. Geklautes Auto, Feldweg. Ich saß daneben. Er wurde erwischt. Ich nicht. Ich hab nie mit jemandem darüber geredet. Bis jetzt. Er war der „Schlechte“, ich der „Gute“. Aber das war eine Lüge. Ich war dabei. Ich hatte einfach mehr Glück. Oder: Ich war bürgerlich genug, um durch die Ritzen zu rutschen, in denen andere hängenblieben. Ich war „der aus gutem Haus“, der „Zuverlässige“. Aber das war Etikett. Nur mit anderem Ausgang. Max kam später ins Gefängnis. Ich nicht.


Ein anderes Leben gerettet Das Leben ist nicht fair. Mit 17 war ich bei einer großen Hilfsorganisation aktiv. Ein türkischer Mann hatte versucht, sich zu vergiften. Ich war Sanitäter, kein Arzt, kein Psychologe, nur ein junger Kerl mit einer Trage und Adrenalin. Und ich half, ihn zu retten. Es war nicht mein Verdienst allein. Aber ich war da. Da, wo andere weggeschaut hätten.

Ich war auf Lehrgang an der Bundesschule dieser Organisation in einem kleinen Ort in Hessen. Sanitäterausbildung mit Uniform, Ernst, Verantwortung. Und das, obwohl ich die 10. Klasse nicht geschafft hatte. Nicht, weil ich dumm war. Sondern weil ich faul war. Weil ich keine Sprachen lernte. Weil ich irgendwo zwischen Lateinvokabeln und Lebenshunger verloren ging. Meine Eltern holten mich vom Internat. Aber die Hilfsorganisation durfte ich behalten. In Allershausen, einem kleinen Ort, wo ich lernte, wie man Erste Hilfe leistet – und wie man einen Menschen ansieht, der sterben will.

Später – Landjugend im Landkreis nahe München. Autorennen auf Landstraßen. Wahnsinnig. Ein Freund erzählte mir, jemand habe die Strecke zwischen unserem Heimatort und der nächsten Kleinstadt in siebeneinhalb Minuten geschafft. Wir glaubten, das sei beeindruckend. Wir waren jung, übermütig, unsterblich. Ein Wunder, dass ich das überlebt habe.

Aber vielleicht wird es wahrer, wenn man es wenigstens erzählt.

Ein Wunder, dass ich das überlebt habe.


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