Kapitel 63: „Nicht als Klopapier zu gebrauchen“

Ein Buch mit Widmung fiel mir in die Hände.

„Nicht als Klopapier zu gebrauchen.“
Darunter: Unterschrift. Reinhard Gehlen.
Ein Satz wie ein Lächeln mit geschlossenen Lippen.

Ich hielt es wie einen Sprengkörper in den Händen.
Gehlen, Chef der Organisation Gehlen, später Gründungsvater des BND.
Das Buch gehörte meinem Vater.

Geheimnisse reihen sich an Geheimnisse.
Familiengeheimnisse, Landesgeheimnisse –
alle mit Tarnkappe,
nur sichtbar im schrägen Licht.


Eine meiner Tanten verschaffte mir als Jugendlicher einen Freifahrtschein beim Sicherheitsoffizier.
Eine andere verleugnet heute mit 89, dass ihr Vater bei der SS war.
Auf der Beerdigung hieß es, er sei Finanzbeamter gewesen.
Stimmt auch. Wie so vieles stimmt – und doch nicht.

Mein Großvater ritt in der Pferdestaffel der SS,
so erzählte man es mir.
Ein Märchen mit Uniform.

Mit meinem Vater darüber gesprochen? Nie.


Die Schatten in dieser Familie reichen weit:
Gustav Borger, der Bruder meiner Großmutter,
steht als Nazi in der Wikipedia.
Mein Vater befreundet mit Buzz Hess,
dessen Vater wiederum Rudolf hieß.
Auch das wurde nie erwähnt.

Die Klavierlehrerin meiner Kindheit:
meine Großmutter.
Begabt, streng, verbittert.
Ohne Persilschein – keine Professur.
Nur Privatschüler.


Dafür war der andere Großvater – der kommunistische –
im Krieg gefallen.
Sagt meine Mutter.
Vielleicht stimmt auch das.
Vielleicht auch nicht.

Wir haben keinen Kontakt mehr.
Zu viele Fragen.
Sie lädt ein –
ich stelle eine Rückfrage –
sie lädt wieder aus.
Sie regiert, wie sie immer regiert hat.
Als Mutter, Managerin, Meisterin:
Tennis, Bowling, Karriere, Kontrolle.
Sie – eine Maschine mit Menschengesicht.


Zwischen ihren Kindern: Lücken.
Unerzählte Leben.
Abtreibung in Holland, irgendwann um 1970.
Ein Satz, einmal gefallen,
wie ein Tropfen in glühendes Öl.


Mich hat das alles nicht abgeschreckt – eher fasziniert.
Ich las John le Carré,
Der Spion, der aus der Kälte kam.
Und alles, was nach kaltem Rauch roch:
Wyatts Sturm,
Landslide von jenem englischen Autor,
dessen Name mir entfallen ist –
Südafrika, MI5, irgendwas zwischen Fakten und Fiktion.

„Es muss nicht immer Kaviar sein“
hielt ich für ein Kochbuch in Tarnung.
Vielleicht war es das auch.


Wirklich grotesk wurde es später,
als ich zur Heirat ein Ehefähigkeitszeugnis brauchte.
Nicht mein deutscher Pass genügte –
nein, ich sollte nachweisen, dass ich Deutscher von Geburt war.
Standesamtsakten, Großeltern, Urkunden.
Wäre einer eingebürgert gewesen, hätte das gereicht.
War aber keiner.

Ich fühlte mich
wie bei der Vorladung zum Ariernachweis
in einer besseren Republik.


Und dann gab es noch den Moment in Wien:
1980er Jahre,
ich und Siggi warten die Lüftungsanlage in einer Kaserne des Bundesheeres.
Kein Sicherheitscheck. Kein Ausweis. Kein Widerspruch.
Einfach so:
ein Deutscher in einer österreichischen Kaserne,
mit Werkzeug und Neugier.

Manchmal denke ich:
alles war seltsam.
Aber vielleicht war seltsam das Normalste,
was man aus dieser Herkunft machen konnte.

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