Kapitel 95: Erbschaften ohne Wahl

Meine Eltern waren keine 68er.
Sie waren zu jung für den Krieg
und zu alt, um Studentenrevolte zu sein.

Mein Vater: weißer Jahrgang.
Keine Flakhelfer-Geschichten,
kein Stahlhelm.
Nur Nachkriegszeit.
Nur Aufbruch.

Meine Mutter: Hamburgerin.
Verschickt nach Passau,
weil Bomben und Flammen
Kinder aus den Städten jagten.
Sie erlebte den Krieg kaum,
aber die Risse blieben.
Beide Väter gefallen,
beide Mütter allein.
Frauen, die Kinder großzogen,
ohne Männer,
ohne Halt.


Mein Vater war noch keine 21
und schon selbstständig.
Ein bunter Hund,
der sich am Bavaria-Filmgelände ein Netzwerk baute,
Träume vom Reichsein,
vom Rauskommen.
Denn die Wohnung war klein,
die Mutter Klavierlehrerin,
das Geld knapp.
Armut war der Ausgangspunkt,
Ehrgeiz die Währung.


Und doch lag über allem ein Nimbus:
die Schillers aus Rothenburg ob der Tauber.
Adelsverwandtschaft in alten Büchern,
ein Wappen im Siebmacher.
Eine Linie,
ein Stammhalter.
Mein Vater – der Jüngste von vier Kindern –
und durch ihn: ich.

Ich machte die Regeln nicht.
Aber sie machten mich.
Bürgerlichkeit, Pflicht, Tradition.
Ein Erbe,
ohne dass ich gefragt wurde.


Ich erinnere mich,
wie meine Mutter meinen Vater zu „Round Table“ fuhr.
Eine Jungunternehmer-Vereinigung,
die wilden Zwanziger des Wirtschaftswunders.
Unter dreißig, voller Pläne,
kein Rotary, kein Lions Club –
aber der gleiche Geist:
Netzwerk, Macht, Zukunft.

Sie hatten nicht mehr die Kriegswunden,
aber auch nicht mehr die Reichtümer,
die die älteren Jahrgänge griffen.
Sie waren die zweite Welle.
Die Generation,
die die Boomer zur Welt brachte.
Mich.


Das ist das Kieselsteinchen:
zwischen Hunger und Wappen,
zwischen Ehrgeiz und Verlust,
zwischen Tradition und Wirtschaftswunder.
Ich kam nicht aus dem Nichts.
Ich kam aus dieser Mischung.
Und trug sie mit mir,
ob ich wollte oder nicht.



Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert