Kapitel 96: Nirgendwo ganz daheim

Ich war bei den Obdachlosen,
aber nie wirklich einer von ihnen.

Ich habe mich mit Drückerkolonnen eingelassen,
aber nach drei Wochen war Schluss.
Nicht, weil ich stärker war.
Sondern weil ich wusste,
dass ich mich retten konnte.
Weil ich nicht dumm genug war,
um in diesem System zu bleiben.

Ich habe das Leid gesehen.
Die Abhängigkeit,
die Scham,
die Ausweglosigkeit.
Aber ich war nur Besucher.
Nicht Bewohner.


Und gleichzeitig:
Da war immer der Nimbus.

Ein Vater,
der auf Partys ans Telefon ging mit
„Schiller – wie Goethe.“
Und es war kein Witz.
Sondern Ahnentafel.
Und Verwandtschaft.
Goethe als Onkel,
Nusch aus Rothenburg,
Professor Lehmus,
ein Justizminister.

Eine Linie,
die mich mitschleifte,
ob ich wollte oder nicht.


Ich stand also zwischen Welten:
zu bürgerlich, um ganz unten zu sein.
Zu zerrissen, um oben zu bleiben.

Ich gehöre nirgendwohin.
Aber ich habe überall Spuren gesammelt.
Splitter.
Kieselsteine.

Und vielleicht ist das meine Welt:
nicht im Besitz eines Heims,
sondern im Besitz der Geschichten.
Nicht sesshaft,
aber sehend.




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