Klassische und zeitgenössische Werttheorien

Kant: Würde und der unbedingte Wert

Im Denken Immanuel Kants (1724–1804) nimmt der Begriff des Wertes eine spezifische Gestalt an. Kant unterscheidet zwischen dem, was einen Preis hat, und dem, was eine Würde besitzt. Dinge, die einen Preis haben, sind ersetzbar und tauschbar. Die menschliche Person hingegen besitzt Würde – einen unbedingten Wert, der nicht verrechnet oder substituiert werden darf. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) heißt es, der Mensch dürfe niemals bloß als Mittel, sondern stets auch als Zweck behandelt werden.1 Damit wird Würde zur Quelle der Moralität und zu einem Maßstab für universelle Normen.

Nietzsche: Die Umwertung aller Werte

Friedrich Nietzsche (1844–1900) wendet sich radikal gegen jede Vorstellung von festen, ewigen oder objektiven Werten. Werte sind für ihn Ausdruck von Machtverhältnissen und Lebensdeutungen. In der Genealogie der Moral (1887) zeigt er, wie Begriffe wie „gut“ und „böse“ historisch entstanden sind und wie sie im Rahmen von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen jeweils anders besetzt wurden.2 Sein Programm der „Umwertung aller Werte“ fordert, tradierte Wertordnungen zu hinterfragen und neu zu setzen – nicht aus transzendenter Norm, sondern aus der bejahenden Kraft des Lebens selbst.

Max Scheler: Die materiale Wertethik

Max Scheler (1874–1928) begründet eine „materiale Wertethik“. Anders als Kant, der die Moralität in die Form des kategorischen Imperativs fasst, nimmt Scheler an, dass Werte gegeben und intuitiv erfahrbar sind. Er unterscheidet verschiedene Wertstufen: sinnliche Werte (z. B. Lust und Unlust), vitale Werte (Gesundheit, Stärke), geistige Werte (Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit) und religiöse Werte (Heiliges, Göttliches).3 Werte sind für Scheler objektive Qualitäten, die nicht von individuellen Vorlieben abhängen. Die Ethik besteht darin, die Ordnung dieser Werte zu erkennen und in der Praxis zu achten.

Nicolai Hartmann: Schichtung der Werte

Nicolai Hartmann (1882–1950) entwickelt Schelers Wertethik weiter und systematisiert sie stärker. Auch er sieht Werte als objektiv vorgegeben, nicht als bloße subjektive Setzungen. In seiner Ethik (1926) beschreibt er eine Schichtung der Werte: von niederen (z. B. Nützlichkeit, Lust) bis zu höheren (z. B. Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe). 4Werte haben für Hartmann eine „Seinsgeltung“: Sie existieren unabhängig davon, ob Menschen sie anerkennen. Moralisches Handeln bedeutet, dieser objektiven Wertordnung gerecht zu werden, auch wenn sie nie vollständig einlösbar ist.

Marx und der ökonomische Wertbegriff

Karl Marx (1818–1883) verwendet den Wertbegriff in einem gänzlich anderen Sinn. In seiner Kritik der politischen Ökonomie ist Wert keine normative Größe, sondern eine ökonomische Kategorie. Wert bezeichnet das „gesellschaftlich notwendige Quantum an Arbeit“, das in einer Ware steckt.5 Damit analysiert Marx die Struktur kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Anders als Kant, Scheler oder Hartmann geht es ihm nicht um das Gute, Wahre oder Gerechte, sondern um die Formen gesellschaftlicher Vermittlung, die Wert in Warenform annimmt.

Dennoch lässt sich eine Brücke schlagen: Auch Marx zeigt, dass „Wert“ nicht naturgegeben, sondern historisch und gesellschaftlich vermittelt ist. Während Kant und die Wertphilosophen nach dem unveräußerlich Guten suchen, legt Marx offen, wie Wert als soziale Form entsteht und wie er ideologisch verschleiert werden kann (Fetischcharakter der Ware). In diesem Sinn steht Marx quer zu den klassischen Werttheorien, eröffnet aber einen unverzichtbaren sozialkritischen Zugang, der für eine umfassende Werttheorie nicht übergangen werden kann.



Markus Gabriel und der neue Realismus

Wert als relationale Differenz

Viele Begriffe – darunter auch „Wert“ – gewinnen ihre Bedeutung erst durch Unterscheidung und relationalen Bezug. In Markus Gabriels Sinnfeldontologie existiert etwas genau dadurch, dass es in einem bestimmten Kontext oder „Sinnfeld“ erscheint.Werte sind also nicht absolut, sondern gewinnen Bedeutung in Abgrenzung zu Nichtwerten, wobei verschiedene Sinnfelder verschiedene Wertsysteme erzeugen können.

Werte als Setzung, Vielfalt der Sinnfelder

Die These, dass Werte gesetzt sind, korrespondiert mit Markus Gabriels Pluralismus der Sinnfelder: Es gibt keine allgemeingültige, übergreifende „Welt“ der Werte – stattdessen existieren Werte real in verschiedenen Bereichen (Kunst, Ethik, Recht usw.), die unterschiedliche Geltungen und Prioritäten hervorbringen. „Wert“ ist damit kein metaphysisches Absolutum, sondern ein im jeweiligen Sinnfeld rechtfertigtes und wirksames Etwas.

Gefährliche Setzungen, Kritik an Reduktionismus

So wie ich Markus Gabriel verstehe, würde er für eine Warnung vor dem Missbrauch von Werten als bloße „Setzung“, etwa durch autoritäre Ideologien, nicht ablehnen. Markus Gabriel kritisiert in vielen Schriften den Reduktionismus (etwa in Politik oder Szientismus), weil dadurch eine einzelne Perspektive als „die“ Wirklichkeit gesetzt wird. Für ihn ist entscheidend, dass unterschiedliche Wertsetzungen in unterschiedlichen Sinnfeldern existieren, deren Rechtfertigung jeweils prüfbar und kritisierbar ist. Wie Gabriel betont, kann der Missbrauch von Werten durch autoritäre Ideologien problematisch sein. Reduktionistische oder monistische Perspektiven setzen einzelne Wertvorstellungen als „universell“ und unterdrücken andere legitime Sichtweisen.

Werte als Axiome


Der Vergleich von Werten mit Axiomen ist wohl auch in der neuzeitlichen Philosophie annehmbar: Auch für Markus Gabriel gibt es Basisannahmen, die Voraussetzung für das Funktionieren von Sinnfeldern sind, aber selbst nicht weiter abgeleitet werden können. Diese sollten immer wieder reflektiert und hinterfragt werden, um Missbrauch und Verfestigungen fragwürdiger Wertsysteme zu vermeiden.

Sinnfeld

In Gabriels Denken ist Wert keine metaphysisch garantierte Eigenschaft, sondern das, was in einem Sinnfeld als wertvoll anerkannt wird. Deshalb müssen Werte als soziale, politische und kulturelle Setzungen kritisch geprüft werden: Ihre Existenz in verschiedenen Sinnfeldern ist real, aber stets an Perspektiven und Kontexte gebunden – und damit immer auch angreifbar und reformierbar

1 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785.

  • Bezug auf Würde und unbedingten Wert: § 428ff.

2 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Leipzig 1887.

  • Bezug auf Historisierung von Gut/Böse und Umwertung aller Werte.

3 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 1916.

  • Wertstufen: sinnlich, vital, geistig, religiös.

4 Hartmann, Nicolai: Ethik, Berlin 1926.

  • Schichtung der Werte, Seinsgeltung, objektive Wertordnung.

5 Marx, Karl: Kritik der politischen Ökonomie, Hamburg 1859/1867.

  • Arbeitswerttheorie, Fetischcharakter der Ware.

6 Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, München 2013; Der neue Realismus, Frankfurt a.M. 2015.

  • Sinnfeldontologie, relationale Differenz von Werten.

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