Kieselsteine

  • Kapitel 99: Der fehlende Wille

    Manchmal denke ich,
    dass ich einen Teil dieser Diplomarbeit mitgeschrieben habe.
    Nicht mit der Hand,
    aber mit den Diskussionen.
    Seite für Seite
    gingen wir sie durch,
    zerlegten Gary S. Becker,
    nahmen seine Rational-Choice-Theorie auseinander,
    die vorgab, den Menschen zu erklären,
    aber den Menschen gar nicht kannte.

    Er bekam eine summa cum laude.
    Verdient.
    Denn er konnte schreiben,
    präzise, klar, analytisch.
    Und doch blieb der Weg stehen.
    Keine Dissertation.
    Kein „Sturm auf die Bastionen“.
    Vielleicht fehlte der Mut,
    vielleicht der Doktorvater,
    vielleicht einfach nur der Wille.

    Ich hätte es mir gewünscht.
    Denn es wäre ein Gegengewicht gewesen
    zu all den falschen Theorien,
    die unser Wirtschaftssystem bestimmen
    und die Menschlichkeit ausblenden.
    Aber ich stand draußen.
    Ohne Abitur,
    ohne Zutritt zum Universitätsleben.
    Ein Zaungast,
    ein Katalysator vielleicht,
    aber keiner von innen.

    Es blieb bei Gesprächen,
    bei Ideen,
    bei Babsi.de –
    unserem kleinen Traum
    einer besseren, transparenteren Wirtschaft.
    Doch als es ernst wurde,
    als man Verantwortung hätte tragen müssen,
    lief er davon.
    Und ich stand da,
    mit den Resten einer Vision,
    die niemand mehr wollte.

    Manchmal,
    wenn ich an diese Zeit denke,
    spüre ich den Riss
    zwischen Können und Wollen.
    Zwischen klugen Gedanken
    und der Bereitschaft, sie zu leben.
    Vielleicht ist es das,
    was unser Zeitalter prägt:
    die Abwesenheit von Wille.
    Wir haben Maßstäbe,
    wir haben Modelle,
    wir haben Maschinen,
    aber keinen Willen mehr,
    der Menschlichkeit zum Maßstab zu machen.



  • Kapitel 98: Flexibilität oder Zerreißen

    Die moderne Welt verlangt Flexibilität.
    Zieh um.
    Zieh hinterher.
    Zieh dahin, wo die Arbeit noch glüht.

    Aber was heißt das?
    Für eine Familie?
    Für ein Kind,
    das Halt braucht,
    statt ständig neue Straßen?


    Manche meiner Jobwechsel kamen nicht aus Lust.
    Sie kamen,
    weil Branchen zusammenbrachen.
    Weil die Welt sich schneller drehte,
    als ein Mensch hinterherkommt.

    Nach 1990 zogen die Callcenter nach Brandenburg.
    Oder nach Dublin.
    Die Lithographie?
    Wir hatten einen Partner in Ungarn –
    billig genug für den Anfang.
    Aber auf Dauer?
    Noch zu teuer.
    Also Indien.
    Singapur.
    Wer nicht mitzieht, fliegt raus.


    Die Drucker?
    Abgeschafft.
    Der Setzer?
    Abgeschafft.
    Der Schreibdienst, bei dem ich einst saß?
    Abgeschafft.
    Heute tippt der Journalist,
    und die Maschine macht den Rest.
    Roboter, Fließband, Algorithmen.
    In der Halle: noch ein Mensch,
    falls mal eine Schraube klemmt.
    Aber wehe, einer läuft im Dunkeln durchs Werk.
    Der stört nur.


    Ich bekam Jobangebote.
    Dublin.
    Portugal.
    Und was sollte ich tun?
    Die Familie zerreißen?
    Alles dem neoliberalen Mantra opfern,
    dass Flexibilität die neue Tugend sei?

    Nicht mit mir.
    Privates Glück ist mehr wert
    als diese Leistungsgesellschaft.
    Ein Kind braucht Stabilität,
    kein Flugticket im Jahresrhythmus.


    Man nennt es „Flexibilität“.
    Ich nenne es: Unmenschlichkeit.



  • Kapitel 97: Sesshaft wider Willen

    „Nicht sesshaft, aber sehend“ –
    das hätte mein Wahlspruch sein können.
    Wanderer zwischen Obdachlosen und Goethe,
    zwischen Drückerkolonnen und Wappen.

    Aber die Wahrheit ist:
    Ich lebe seit über 30 Jahren an derselben Adresse.

    Nicht weil ich es wollte.
    Sondern weil sie es brauchte.
    Die Frau, die ich 1994 in Mödling traf,
    bei einer Dichterlesung,
    die sich anfühlte wie Schicksal.

    Sie war die Tochter eines Professors,
    eine Frau mit Heim-Bedarf,
    während ich weitergezogen wäre.
    Vielleicht rastlos geblieben,
    hätte ich allein gelebt.
    Aber sie entschied:
    Wir bauen ein Zuhause.
    Und ich entschied:
    Ja.


    Also wurde es München.
    Nicht Wien.
    Nicht die Welt.
    Sondern Einkommen.
    Ein Job.
    Während sie studierte,
    ihren Doktor machte,
    wuchs unser gemeinsames Leben
    in deutschen Straßen.


    Wir hatten den Kinderwunsch fast aufgegeben.
    Da kam er.
    Unser Sohn.
    Ein Schnitt,
    der jede Lebensplanung neu schrieb.
    Professorin?
    Weltreise?
    Karriereleiter?
    Alles anders.

    Und das war gut.


    Denn ich wusste:
    Hochintelligenz braucht Halt.
    Nicht Beschleunigung.
    Ein Kind mit IQ über 140 denkt schneller,
    aber fühlt nicht schneller.
    Das Herz reift in seiner eigenen Zeit.
    Und darum braucht es Stabilität.
    Einen Ort.
    Eine Adresse,
    die bleibt.


    So bin ich sesshaft geworden.
    Nicht aus Natur.
    Nicht aus Wille.
    Sondern aus Liebe.
    Aus Verantwortung.
    Aus dem Wissen,
    dass Stabilität manchmal das größte Abenteuer ist.

  • Kapitel 96: Nirgendwo ganz daheim

    Ich war bei den Obdachlosen,
    aber nie wirklich einer von ihnen.

    Ich habe mich mit Drückerkolonnen eingelassen,
    aber nach drei Wochen war Schluss.
    Nicht, weil ich stärker war.
    Sondern weil ich wusste,
    dass ich mich retten konnte.
    Weil ich nicht dumm genug war,
    um in diesem System zu bleiben.

    Ich habe das Leid gesehen.
    Die Abhängigkeit,
    die Scham,
    die Ausweglosigkeit.
    Aber ich war nur Besucher.
    Nicht Bewohner.


    Und gleichzeitig:
    Da war immer der Nimbus.

    Ein Vater,
    der auf Partys ans Telefon ging mit
    „Schiller – wie Goethe.“
    Und es war kein Witz.
    Sondern Ahnentafel.
    Und Verwandtschaft.
    Goethe als Onkel,
    Nusch aus Rothenburg,
    Professor Lehmus,
    ein Justizminister.

    Eine Linie,
    die mich mitschleifte,
    ob ich wollte oder nicht.


    Ich stand also zwischen Welten:
    zu bürgerlich, um ganz unten zu sein.
    Zu zerrissen, um oben zu bleiben.

    Ich gehöre nirgendwohin.
    Aber ich habe überall Spuren gesammelt.
    Splitter.
    Kieselsteine.

    Und vielleicht ist das meine Welt:
    nicht im Besitz eines Heims,
    sondern im Besitz der Geschichten.
    Nicht sesshaft,
    aber sehend.




  • Kapitel 95: Erbschaften ohne Wahl

    Meine Eltern waren keine 68er.
    Sie waren zu jung für den Krieg
    und zu alt, um Studentenrevolte zu sein.

    Mein Vater: weißer Jahrgang.
    Keine Flakhelfer-Geschichten,
    kein Stahlhelm.
    Nur Nachkriegszeit.
    Nur Aufbruch.

    Meine Mutter: Hamburgerin.
    Verschickt nach Passau,
    weil Bomben und Flammen
    Kinder aus den Städten jagten.
    Sie erlebte den Krieg kaum,
    aber die Risse blieben.
    Beide Väter gefallen,
    beide Mütter allein.
    Frauen, die Kinder großzogen,
    ohne Männer,
    ohne Halt.


    Mein Vater war noch keine 21
    und schon selbstständig.
    Ein bunter Hund,
    der sich am Bavaria-Filmgelände ein Netzwerk baute,
    Träume vom Reichsein,
    vom Rauskommen.
    Denn die Wohnung war klein,
    die Mutter Klavierlehrerin,
    das Geld knapp.
    Armut war der Ausgangspunkt,
    Ehrgeiz die Währung.


    Und doch lag über allem ein Nimbus:
    die Schillers aus Rothenburg ob der Tauber.
    Adelsverwandtschaft in alten Büchern,
    ein Wappen im Siebmacher.
    Eine Linie,
    ein Stammhalter.
    Mein Vater – der Jüngste von vier Kindern –
    und durch ihn: ich.

    Ich machte die Regeln nicht.
    Aber sie machten mich.
    Bürgerlichkeit, Pflicht, Tradition.
    Ein Erbe,
    ohne dass ich gefragt wurde.


    Ich erinnere mich,
    wie meine Mutter meinen Vater zu „Round Table“ fuhr.
    Eine Jungunternehmer-Vereinigung,
    die wilden Zwanziger des Wirtschaftswunders.
    Unter dreißig, voller Pläne,
    kein Rotary, kein Lions Club –
    aber der gleiche Geist:
    Netzwerk, Macht, Zukunft.

    Sie hatten nicht mehr die Kriegswunden,
    aber auch nicht mehr die Reichtümer,
    die die älteren Jahrgänge griffen.
    Sie waren die zweite Welle.
    Die Generation,
    die die Boomer zur Welt brachte.
    Mich.


    Das ist das Kieselsteinchen:
    zwischen Hunger und Wappen,
    zwischen Ehrgeiz und Verlust,
    zwischen Tradition und Wirtschaftswunder.
    Ich kam nicht aus dem Nichts.
    Ich kam aus dieser Mischung.
    Und trug sie mit mir,
    ob ich wollte oder nicht.



  • Kapitel 94: Der Druck der Bürgerlichkeit

    Ich habe Suppe in Lyon gegessen,
    als Bettler,
    verloren,
    hungrig.

    Und ich habe erlebt,
    wie eine Grundschuld über 27 Millionen Euro gelöscht wurde.
    Zahlen, Summen, Dimensionen,
    die sich kein Normalbürger vorstellen kann.

    Ich war unten.
    Ich war oben.
    Ich habe beides gesehen.


    Die Bürgerlichkeit ist gnadenlos.
    Sie duldet keinen Absturz.
    Wer fällt, soll unsichtbar werden.
    Oder tot.

    Ich las Nachrichten:
    ein Handelsunternehmer, Phoenix-Konzern,
    erschoss sich.
    Ein Softwareingenieur,
    fast eine halbe Million Abfindung.
    Tilgte das Häuschen.
    Dann Arbeitslosigkeit.
    Dann das Ende.

    „Du erinnerst dich an Klaus?“
    Ja.
    Und nein.
    Denn er ist nicht mehr.


    Andere wählten die Aggression.
    Ein Mann, hochintelligent,
    IQ über 140,
    der Bürokratie nicht ertrug.
    Er tötete den Leiter eines Arbeitsamtes.
    Nicht aus Bosheit –
    aus Zerreißen.

    Ein anderer, in Wien,
    mit dem ich arbeitete.
    Später verbrannte er sich.
    Aus Protest.
    Und doch brachte es nichts.
    Vergessen im Rauschen.


    Was mich wundert:
    Nicht die Armen,
    die am Boden liegen,
    nicht die Flaschensammler.
    Sondern die Bürgerlichen,
    die den Absturz nicht überleben.

    Als gäbe es kein Leben nach dem Verlust.
    Als wäre das Ende des Status
    das Ende des Seins.

    Mir erscheint das dumm.
    Weil das Leben immer weitergeht.
    Auch im Nichts.
    Auch im Bruch.


    Ich habe gelernt:
    Der Druck der Bürgerlichkeit
    ist härter als Hunger.
    Härter als Kälte.
    Härter als Scham.

    Weil er tötet.
    Leise.
    Unbemerkt.
    Vergessen.



  • Kapitel 93: Schatten einer Erinnerung

    Vielleicht war es Branson.
    Vielleicht auch nicht.

    Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich in den 90ern gelesen habe.
    Vor-Internet.
    Vor-Suchmaschine.
    Damals, als Wissen noch aus Papier kam und man sich auf sein Gedächtnis verlassen musste.

    Ein britischer Multimillionär – ich meine, es war Richard Branson – soll in seiner Jugend in Deutschland kurz obdachlos gewesen sein.
    Vielleicht München, vielleicht Bayern.
    Ein paar Wochen nur.
    Ein Zwischenspiel, das nicht ins Hochglanzleben passte.

    Heute finde ich dazu nichts mehr.
    Vielleicht gelöscht.
    Vielleicht nie geschrieben.
    Vielleicht nur eine Randnotiz, die man später lieber verschwinden ließ.

    Aber in mir blieb sie hängen.
    Wie ein Kieselstein im Schuh.
    Klein, aber schmerzhaft.
    Weil sie mir zeigte: Selbst die, die heute auf Bühnen stehen und Privatinseln besitzen, kannten das Nichts.

    Ob es stimmt, weiß ich nicht.
    Aber die Möglichkeit allein reicht.
    Denn sie verbindet.
    Sie sagt: Zwischen Sein und Nichts gibt es keinen unüberbrückbaren Graben.
    Manchmal ist es nur eine Bank am Bahnhof, ein kalter Morgen, ein verpasster Anschluss.

    Und das reicht, um zu verstehen:
    Wir sind alle verletzlich.
    Wir sind alle Menschen.

  • Kapitel 92: Maß, Wert und das Nichts

    Wenn wir über „Nichts“ sprechen, ist das Nichts nicht wirklich weg. Es ist eine Art Teil vom Sein. Man könnte sagen: Auch das Nichts gehört zur Welt.

    Ein Beispiel: Wenn in einem Stein Buchstaben eingraviert werden, dann entstehen sie dadurch, dass Material fehlt. Gerade weil etwas fehlt, entsteht Bedeutung. Das Nichts macht also sichtbar, was gemeint ist.

    Wir Menschen denken gern in Gegensätzen: da ist etwas – oder da ist nichts. Das hat uns im Leben geholfen. Der Affe, der nach einem Ast greift, muss wissen: Ist der Ast da oder nicht? Aber bei Dingen wie Licht funktioniert dieses Entweder-Oder nicht mehr. Licht kann sich wie ein Teilchen verhalten, aber auch wie eine Welle. Es ist beides zugleich.

    Alles, was wir sagen oder schreiben, gehört zur Welt. Selbst dieser Text ist Teil der Welt. Sprache beschreibt die Welt nicht nur – sie verändert sie auch. Wenn ich etwas sage, entsteht etwas Neues.

    Viele glauben: Weil wir alles sagen können, ist alles gleich wichtig. Aber das stimmt nicht. Damit eine Aussage falsch sein kann, muss sie überhaupt erst da sein. Ihr Wert hängt also davon ab, dass sie existiert.

    Darum:

    • Die Qualität einer Aussage ist, dass sie überhaupt da ist.
    • Die Quantität ist, wie wir sie bewerten.

    Und das gilt auch für das Leben:

    • Ohne Maß gibt es keinen Wert.
    • Ohne Qualität kann man keine Menge bestimmen.
    • Ohne Sein ist jedes Haben nichts.
  • Kapitel 91: Nichts und Sein

    Das Nichts ist nie leer.
    Sobald wir „Nichts“ sagen, ist schon etwas gesagt.

    Ein Wort.
    Ein Gedanke.
    Ein Sein.

    Das Nichts kann sich nicht selbst bezeichnen.
    Es braucht ein Sein, um als Nichts erkennbar zu sein.

    Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.
    Sein ist der Name für das Nichts, wenn kein Unterschied mehr besteht.

    Und doch – das Wort „Ich“ teilt schon.
    Es schafft Trennung: Ich und Nicht-Ich.
    Alles könnte eins sein – und doch mache ich eine Grenze.

    Von außen betrachtet gäbe es diese Grenze nicht.
    Es wäre immer noch ein Einziges.
    Aber von innen zerfällt es in zwei.


    Das Nichts formt.
    Ein Steinblock wird zur Inschrift, weil etwas fehlt.
    Die Leere trägt das Wort.

    Die Null entstand durch eine Wegnahme.
    Ein Kreis, ein Loch, ein Zeichen für das Nichts.
    Doch dieses Nichts ist nicht Abwesenheit – es ist Rahmen.


    Wir kommen mit dem Gleichzeitigen nicht zurecht.
    Ein Etwas ist für uns da oder nicht da.
    Der Affe greift nach dem Ast – er kann nicht gleichzeitig Ast und Nicht-Ast greifen.
    Für Licht gilt das nicht.
    Es hält sich nicht an unser Entweder-Oder.
    Welle und Teilchen zugleich.
    Ort und Nichtort zugleich.

    Das Denken zerbricht daran, weil Sprache nicht Welt ist.
    Sprache ist selbst Teil der Welt.
    Und jedes Wort verändert, was es beschreibt.


    Maschinen kennen kein Nichts.
    Sie handeln, rechnen, tauschen.
    Aber sie wollen nicht.

    Wenn wir Maschinen den Sinn überlassen,
    dann wird Sein bedeutungslos.
    Dann sind wir das Nichts in der Geschichte der Maschinen.
    Ein Echo, ein Vorläufer, wie Dinosaurier.


    Ohne Wille ist Sein und Nichts gleich.
    Wille ist das Einzige, was unterscheidet.
    Unwille ist auch ein Wille.
    Das Nichts ohne Willen wäre nur Stille.


    Sein ist das Nichts, das sich selbst Bedeutung gibt.



  • Kapitel 90: Maß, Wert und die Grenze des Seins

    In Haben und Sein schrieb ich einmal: „Etwas nicht zu haben ist eine Quantität der Größe Null im Sein.“ Was wir als Nichts bezeichnen, ist eigentlich nur eine Quantität des Seins, gleichzeitig aber auch eine Qualität des Seins. Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.

    Das heißt jedoch nicht, dass keine Unterschiede bestünden. Im Gegenteil: bereits das erste Wort, sei es „Ich“ oder „Nichts“, unterscheidet zwischen Sein und Nichtsein. Die bloße Möglichkeit, etwas zu bezeichnen, erschafft einen Unterschied. Wenn ich zwei Spalten habe, also zwei Nicht-Orte, und ein Teilchen hindurchschicke, erwarten wir, dass es sich entscheidet – als könnte es nicht durch beide gleichzeitig gehen. Doch Ort und Nicht-Ort sind nur Konstrukte, wie der Affe, der prüft, ob ein Ast da ist oder nicht. Für Äste funktioniert das. Für Lichtquanten weniger. Da hilft uns nur der Welle-Teilchen-Dualismus, eine Denkfigur, die mit der alltäglichen Logik nicht zu greifen ist.

    Das Nichts ist eine Grenze des Seins. Diese Grenze kann links, rechts, oben oder unten liegen, sie bleibt aber immer eine Grenze innerhalb des Seins. Das zeigt sich im Bild des Steins: Was wir in ihn hauen, entsteht durch Wegnahme. Gerade die Abwesenheit schafft Bedeutung. Robert Kaplan schreibt in seiner Geschichte der Null, dass das Kreiszeichen der Null durch Wegnahme des Steines entstanden sei. Das Nichts ist also nicht die Abwesenheit, sondern eine Form des Hervortretens.

    Unser Denken aber ist evolutionär auf Dualismen geeicht: da ist ein Ast – oder da ist keiner. Diese Klarheit rettete Leben. Doch sie hindert uns, Gleichzeitigkeit und Überlagerung zu denken. Wir tun uns schwer, dass etwas zugleich zählbar und unzählbar sein könnte.

    Und dennoch gilt: Alles, was ist – auch diese Zeilen – ist Teil der Welt. Keine Wissenschaft steht außerhalb davon. Jede Theorie, jede Formulierung verändert die Welt. Sprache beschreibt nicht nur, sie greift ein. Sie ist selbst Teil des Seins. Doch in den letzten hundert Jahren haben wir diese Kraft oft missverstanden. Wir tun so, als wäre Beliebigkeit die Folge. Aber das stimmt nicht. Aussagen können nicht beliebig sein: Sie müssen erst einmal sein, um falsch oder wahr genannt zu werden.

    So bleibt: Die Qualität einer Aussage ist ihre Existenz. Die Quantität einer Aussage ist ihr Wert.
    Ohne Maß gibt es keinen Wert.
    Eine Quantität ist ohne Qualität nicht bestimmbar.
    Haben ist ohne Sein nichts.