Kapitel 53: Die Stimme der Firma

2015 –
das Jahr von Gazprom,
Home Shopping Europe,
Allsecure
und der leisen Verzweiflung im Überlauf-Callcenter.

Ich war die Stimme
für alles.

Die Stimme von
Check24.
Von Gazprom.
Von HSE.
Von irgendeiner Billigstrommarke,
die heute längst unter einem anderen Namen weiterlügt.

Ich war
Versicherungsmakler.
Verkäufer.
Reklamationsstelle.
Mahner.
Versteher.
Verführer.

Und das alles in einem Acht-Stunden-Block,
durchtelefoniert
mit 30 Sekunden zwischen den Fällen
– manchmal auch null.


Im Hintergrund der Fernseher,
lautlos.
HSE läuft,
eine neue Brosche,
eine neue Einsamkeit.

Am anderen Ende:
eine ältere Dame.
Ruft nicht nur an,
weil sie die Brosche will.
Ruft an,
weil sie jemanden will,
der ihr sagt,
dass es eine gute Wahl war.

Ich bin dieser Jemand.
Ich sage ihr,
dass das Schmuckstück traumhaft ist.
Dass sie Stil hat.
Dass Gold zu ihrem Hautton passt,
obwohl ich sie nie gesehen habe.

Vielleicht flirtet sie ein bisschen.
Vielleicht tu ich das auch.
Das gehört dazu.
Denn ein charmanter Mann
verkauft Eyeliner besser als jede Frau.

Das ist Marktwahrheit.
Absurde Wahrheit.


Dann klingelt es.
Jetzt Check24.
Ein Versicherungswechsel.

Du musst wissen,
ob der Kunde aus dem Portal kam
oder direkt bei Allsecure anruft.

Gleicher Tarif,
anderer Preis.
Rechtslage unklar.
Transparenz = Katastrophe.

Aber ich bin jetzt der Versicherungsprofi.
Rede von Deckungssummen,
von Sonderkündigungsrechten,
von SF-Klassen und Rückstufungstabellen.

Funktioniert nur,
weil die Software gut ist.

Und weil ich gelernt habe,
meine Stimme so klingen zu lassen,
als hätte ich diesen Job seit zwanzig Jahren.


Dann kommt Gazprom.

Ein Kunde will wissen,
warum sein Strom abgestellt wird.
Er tobt.
Er hat Angst.
Er ist wütend.

Und ich?

Ich bin gerade
das Gesicht des Systems.
Obwohl ich selbst
am unteren Rand existiere.

Aufstocker.
Hartz-IV.
Weniger als Mindestlohn,
wenn man die unbezahlten Pausen rausrechnet.

Ich kenne seine Welt.
Ich weiß,
was es heißt,
kein Licht zu haben.
Keinen Kühlschrank.
Keine Dusche mit Warmwasser.

Und trotzdem bin ich jetzt der,
der ihm den Strom nimmt.

Weil das System mich dazu macht.


Und während Nina Ruge
Werbegesicht von PST ist
und ihr Gas kostenlos bezieht
für ein paar Worte in der Werbung,

verklicker ich
der nächsten Oma
dass ihr Paket von HSE
noch in der Auslieferung sei.

Obwohl es längst verloren ist.

Sie war vertraglich befreit.
Ich weiß das,
weil sie sich bei mir beschwerte.
Nina Ruge.
Ein bekanntes Gesicht.
Ein Werbegesicht.
Ein Mensch mit Einfluss,
der gratis Gas bekam
– und trotzdem meckerte,
weil da eine Rechnung war,
die eigentlich nicht hätte da sein dürfen.

Ja, ein Verstoß gegen den Datenschutz,
dass ich das erzähle.
Aber ganz ehrlich?
Mir ist das heute scheißegal.

Denn dieses System,
das ihr alles schenkt,
nimmt anderen das Letzte.

Es nimmt denen,
die morgens aufstehen,
in Schichten arbeiten,
den Strom.
Den Zahnersatz.
Den Bus zur Arbeit.
Und bald auch den Respekt.

Ich war arm.
Ich war aufstockend.
Ich war müde.
Ich war laut.
2017 noch anonym.
Peter ohne Gesicht.

Dann kam .
Dann kamen Schilder.
Dann kamen Demos.

Und heute?
Heute hab ich durch ein Geschenk etwas Geld.
Ich bin nicht mehr arm.
Aber ich weiß noch, wie es war.
Und ich bin immer noch wütend.

Denn auch wenn ich jetzt Geld habe –
das System bleibt dasselbe:
Die Reichen kriegen Geschenke.
Die Armen kriegen Kürzungen.
Und die AfD steht an der Seitenlinie
und zündelt
und hetzt
und vergiftet alles.

Diese Partei ist das Sprachrohr der neuen Armenverachtung.
Sie macht Armut nicht unsichtbar,
sie macht sie zum Feindbild.

Ich habe mein Gesicht gezeigt,
damit andere es nicht mehr müssen.
Damit man sieht,
dass Armut kein Versagen ist.
Sondern Ergebnis eines Systems,
das oben verteilt
und unten verwaltet.

Warum sollte ich da Nina Ruge noch schützen?
Warum sollte ich dieses Spiel mitspielen,
wo Anstand nur von unten verlangt wird?

Ich schulde dieser Gesellschaft keine Höflichkeit.
Nicht, wenn sie sich skrupellos den Schwachen gegenüber zeigt.



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