Kapitel 55: Der faule Hund

Vielleicht bin ich wirklich ein fauler Hund. Oder sagen wir: einer, dem seine Intelligenz immer wieder in die Quere kam. Alles beginnt mit der Umschulung in der fünften Klasse. Der Stammhalter der bürgerlichen Familie bringt eine Fünf in Latein und eine Fünf in Deutsch nach Hause. Krise. Versetzung gefährdet. Was wird nur aus dem Jungen?

Aber eigentlich begann es schon früher, viel früher – in der ersten Klasse. Ich wurde wieder rausgenommen. „Zu verspielt“, hieß es. Die Dorfschule in Kranzberg, das war nichts für mich. Stattdessen sollte es die Knabenschule in Freising sein. Strenge. Ordnung. Leistung.

Ich aber spielte lieber mit dem Sohn eines US-Amerikaners, schaute den Tauben am Fenster zu und verlor mich in Gedanken. Meine Welt war eine andere. Ich sprach bairisch, wie es eben auf dem Land gesprochen wurde. Mein Freund wurde der alte Schausepp, der vorm Iberlwaschhaus saß, keiner verstand ihn mehr, aber ich verstand ihn. Er erzählte vom Dengeln der Sensen, vom 19. Jahrhundert, von Arbeit, harter Arbeit. Ich hörte zu. Ich sog es auf.

Doch all das war nicht gefragt. Mit dem Schulversagen wurde mir das Bairische gründlich ausgetrieben. So gründlich, dass ich es heute nicht mehr spreche. Außer – wenn’s mich packt. Wenn einer dieser tiefen emotionalen Momente kommt, in denen das Kind, das ich mal war, wieder an die Oberfläche tritt. Dann spricht es aus mir. Dann ist es plötzlich wieder da, das Bayerisch, das mich geprägt hat, das mir aber aberzogen wurde, wie man einem Hund das Bellen abtrainiert.

Und trotzdem erinnere ich mich. An den alten Schausepp. An die Tauben. An das Jahr 1969. An die Übertragung der Mondlandung. Ich war vier. Und ich weiß noch genau, wie es war, als der Mensch den Mond betrat – und ich gerade begann, meine Sprache zu verlieren.



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