Kapitel 76: Der gelbe Teppich

Es gibt Erinnerungen,
die nicht aus Sprache bestehen.
Nur aus Farben.
Oder Gerüchen.
Oder dem Gefühl,
dass etwas war –
bevor es jemanden gab.

Meine Schwester kam,
und damit war ich nicht mehr allein.
Aber vorher
war ich es gewesen.

Ich weiß das,
obwohl ich es nicht weiß.

Da war der gelbe Teppich,
unter dem Bett meiner Eltern.
Ich kroch darunter,
als ich noch nicht sprechen konnte.
Ich weiß das nur
aus der Perspektive des Teppichs.

Es war ein leuchtendes Gelb.
Wärme.
Staub.
Geborgenheit.

Mein Vater arbeitete damals
im Garten.
Ich stellte ihm viele Fragen.
Warum fällt der Baum nicht um?
Was hält ihn?

Er hackte an einem Hang
und legte ein Beet an.
Ich sah,
wie er der großen Eiche
Wurzeln abschnitt.

Ich fragte.
Er wich aus.
Ich war vier oder fünf
und nicht stillzukriegen.

Später erzählte er,
er habe meine Mutter gefragt,
ob man mich nicht
„abstellen“ könne.
Wie ein Radio.

Er sagte es lachend.
Ich hörte das Lachen,
aber auch das Echo
dahinter.

Ich habe meinem Sohn
nie Lügen erzählt.
Wenn ich etwas nicht weiß,
sage ich es.

Denn auch ein Kind
versteht das.
Und erinnert sich.
Vielleicht nicht in Worten.
Aber in Teppichfarben.

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