Kapitel 97: Sesshaft wider Willen

„Nicht sesshaft, aber sehend“ –
das hätte mein Wahlspruch sein können.
Wanderer zwischen Obdachlosen und Goethe,
zwischen Drückerkolonnen und Wappen.

Aber die Wahrheit ist:
Ich lebe seit über 30 Jahren an derselben Adresse.

Nicht weil ich es wollte.
Sondern weil sie es brauchte.
Die Frau, die ich 1994 in Mödling traf,
bei einer Dichterlesung,
die sich anfühlte wie Schicksal.

Sie war die Tochter eines Professors,
eine Frau mit Heim-Bedarf,
während ich weitergezogen wäre.
Vielleicht rastlos geblieben,
hätte ich allein gelebt.
Aber sie entschied:
Wir bauen ein Zuhause.
Und ich entschied:
Ja.


Also wurde es München.
Nicht Wien.
Nicht die Welt.
Sondern Einkommen.
Ein Job.
Während sie studierte,
ihren Doktor machte,
wuchs unser gemeinsames Leben
in deutschen Straßen.


Wir hatten den Kinderwunsch fast aufgegeben.
Da kam er.
Unser Sohn.
Ein Schnitt,
der jede Lebensplanung neu schrieb.
Professorin?
Weltreise?
Karriereleiter?
Alles anders.

Und das war gut.


Denn ich wusste:
Hochintelligenz braucht Halt.
Nicht Beschleunigung.
Ein Kind mit IQ über 140 denkt schneller,
aber fühlt nicht schneller.
Das Herz reift in seiner eigenen Zeit.
Und darum braucht es Stabilität.
Einen Ort.
Eine Adresse,
die bleibt.


So bin ich sesshaft geworden.
Nicht aus Natur.
Nicht aus Wille.
Sondern aus Liebe.
Aus Verantwortung.
Aus dem Wissen,
dass Stabilität manchmal das größte Abenteuer ist.

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