Kieselsteine

  • Kapitel 45: Die Partei, die aus dem Chat kam

    Geld hatte ich nie.
    Und selbst als es plötzlich da war – oder hätte sein können – ließ ich es liegen.

    Fünf Millionen Euro.
    Ein Angebot von Götz Werner, über seine Schweizer Stiftung.
    Für das Bündnis Grundeinkommen.
    Für unsere Idee.

    Aber das Parteiengesetz ist klar:
    Kein Geld aus dem Ausland.
    Und Prinzipien waren mir wichtiger als Wege, die vielleicht zum Ziel führen – aber durch Grauzonen führen.

    Ron war stinksauer.
    Vielleicht war es der Anfang vom Ende.
    Vielleicht auch nur der Anfang eines ehrlicheren Weges.

    Was bleibt, ist die Geschichte.
    Die echte. Die vom 2. April 2016.

    Ein Chat auf Twitter.
    Zwei Menschen.
    Eine Idee.

    Ronald Trzoska:
    „Lust neue monothematische Partei zu gründen?“

    Ich:
    „Die Satzung ist ja mehr oder weniger vorgegeben durch die Gesetzeslage.“

    Ronald:
    „Das ist Quatsch. Eine Satzung ist die Verfassung einer Partei.“

    Und so ging es weiter.
    Hin und her. Argumente. Paragraphen. Idealismus.
    Am Ende: eine Vision.
    Eine Partei – für nur ein Thema.
    Das Bedingungslose Grundeinkommen. BGE.

    Wir nannten es das Bündnis Grundeinkommen.
    Kurzbezeichnung: BGE.
    Zusatz: Die Grundeinkommenspartei.

    Am 25. September 2016 wurde aus der Idee Wirklichkeit.
    32 Menschen aus 11 Bundesländern trafen sich in München –
    und gründeten eine Bundespartei.

    Wir waren keine Partei für alle.
    Wir wollten auch keine sein.
    Wir wollten: Werkzeuge sein.
    Für Kandidierende. Für eine Idee.

    Ein Bürgensystem schützte uns:
    Wer Mitglied werden wollte, brauchte zwei Gründer als Bürgen.
    Kein offenes Tor, sondern ein kontrollierter Eingang.
    Nicht aus Arroganz – aus Notwendigkeit.
    Denn Ideen müssen geschützt werden, wenn sie Bestand haben sollen.

    Von April bis September führten wir unzählige Gespräche.
    Konferenzen. Debatten.
    Und schließlich:
    Eintrag ins Parteienregister.

    Das Ziel:
    Das Grundeinkommen auf 45 Millionen Wahlzettel zu bringen.

    Und 2017 gelang es uns tatsächlich.
    Bundesweite Teilnahme an der Bundestagswahl.
    97.386 Stimmen.
    Kein Mandat.
    Aber ein Zeichen.
    Ein Anfang.

    Kapitel 45: Der, der ging, als es zählte

    Ich wusste, dass ich gehen würde.
    Von Anfang an.

    März 2017.
    Das hatte ich intern kommuniziert.
    Ein Jahr Aufbau.
    Dann Rückzug.

    Und ich ging nicht einfach still – ich verschwand bewusst.
    Ich tauchte nicht auf beim Bundesparteitag des Bündnis Grundeinkommen mit Vorstandswahlen.
    Nicht, weil ich trotzig war.
    Sondern weil ich wusste: Wenn ich da bin, bleibe ich.
    Und ich musste gehen, um mich selbst nicht zu verlieren.

    Stattdessen:
    Bundesparteitag der Piraten.
    Gespräch mit Patrick Schiffer.
    Ein Stunt? Vielleicht.
    Ein Symbol? Ganz sicher.

    Die Piraten? Sauer.
    Sie sahen Konkurrenz, nicht Strategie.
    Dabei war meine Absicht ganz anders:
    Brücken bauen, keine neue Front.
    Aber die Brücke wurde früh zerstört –
    durch den Bezirksvorsitzenden der Piraten Oberbayern.
    Was hätte werden können, blieb auf der Strecke.
    Und aus Verbindung wurde Trennung.

    Dann ging ich.
    Und mit mir ging etwas, was ich nicht für so bedeutend hielt:

    Struktur. Organisation. Haltung.

    Die Partei, die ich mit aufgebaut hatte,
    die ich zusammengehalten hatte,
    zerbröselte schneller, als ich schauen konnte.
    Nicht aus Böswilligkeit.
    Nicht aus Dummheit.
    Sondern weil zu viele dachten, der Bär sei schon erlegt –
    und sich um das Fell stritten, das es noch gar nicht gab.

    In zwölf Monaten eine Partei zu gründen,
    sie in allen 16 Bundesländern zur Bundestagswahl zu bringen,
    mit Unterschriftensammlung, ohne große Medien,
    ohne Geld, ohne Apparat –
    das ist eine logistische Meisterleistung.

    Und ich glaube –
    auch wenn ich es nicht beweisen kann –
    dass das noch niemand sonst geschafft hat.
    Nicht mal die Piraten.
    Obwohl sie seit 2006 existierten
    und 2009 mit 0,9 % zur Europawahl bundesweit bekannt wurden.
    Aber sie haben es beim Erstantritt nicht in alle Länder geschafft.
    Wir schon.

    Ich war danach ausgebrannt.
    Parteiintrigen, Machtspielchen, Kontrollverluste.
    Soziologisch faszinierend, menschlich belastend.
    Kaum ist die Idee geboren,
    fangen Menschen an, das Erbe zu verteilen.
    Der Bär atmet noch – und doch wird schon das Messer gewetzt.

    Manchmal fühlte es sich an
    wie in „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“.
    Absurdität trifft auf Ernst.
    Und mittendrin: Ich.
    Mit einer Idee, die plötzlich größer war als ich selbst.
    Und mit der Erkenntnis: Manchmal ist das Gehen die einzig richtige Form von Führung.


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  • Kapitel 44: Zwischen Show und Substanz

    Zwischen Erfolg und Misserfolg liegen manchmal nur die Nerven.
    Oder der Mut, eine Illusion zu inszenieren, bis sie Realität wird.

    Damals – Viag Interkom.
    Ein Projekt mit einem potenziellen Volumen von 400.000 D-Mark im Monat.
    Kein Taschengeld. Kein Planspiel.
    Ein echter Fisch hatte angebissen – der Vorstand selbst.

    Die Idee war stark.
    Ein Callcenter, das besser ist als alles, was es auf dem Markt gab.
    Effizienter. Menschlicher. Durchdachter.
    Und ich hatte alles – außer: die Show.

    Der Vorstand wollte sehen.
    Nicht hören. Nicht glauben.
    Er wollte Räume. Agents. Headsets. Monitore.
    Eine Bühne.

    Ich hatte: Visionen.
    Was ich nicht hatte: Kulissen.

    Ich hätte einen Raum mieten können.
    Leute reinsetzen. Headsets verteilen.
    Eine Simulation bauen – wie es andere tun.

    Aber ich tat es nicht.
    Nicht aus Dummheit.
    Aus Anstand? Aus Angst? Aus einer alten Weigerung, Blender zu sein?

    Vielleicht war ich zu feige.
    Oder zu ehrlich.

    Und so ist es passiert, wie es dann eben passiert:
    Der Fisch schwamm weiter.
    Und mit ihm das Projekt, das hätte alles ändern können.

    Heute weiß ich: Erfolg ist oft nur eine Inszenierung.
    Und wer nicht mitspielt, bleibt Zuschauer.

    Aber ich frage mich manchmal:
    Wenn ich es getan hätte – nur einmal, diese eine Show –
    hätte es dann gereicht?

    Oder hätte ich mich selbst verloren?

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  • Kapitel 43: Die Kunst des Wegnehmens

    Ich bin nie gut mit Geld gewesen.
    Nicht, weil ich es verprasst hätte.
    Sondern weil ich nicht skrupellos genug war, es wirklich zu verdienen.

    In den Achtzigern landete ich in einem Strukturvertrieb.
    HMI. Kapitallebensversicherungen verkaufen.
    Ein Name wie ein Industrieprodukt.
    Und das war es auch.

    Die Gesprächsleitfäden – psychologisch ausgeklügelt.
    Kein Zufall. Keine Improvisation.
    Ein System.
    Du nimmst dem kleinen Kind im Erwachsenen etwas weg.
    Sicherheit. Zugehörigkeit. Zukunft.
    Und dann bietest du genau das wieder an – als Produkt.
    Versicherung. Rendite. Versprechen.

    Strukturvertriebe verdienen an allem.
    Nicht nur am Verkauf.
    Sondern an denen, die verkaufen.
    Pyramiden auf zwei Beinen.

    Ich weiß, wovon ich rede.
    Meine Mutter machte zeitweise die Abrechnungen für die Allianz.
    Ich habe die Summen gesehen.
    Die Spitze der Struktur – das sind keine Zahlen mehr. Das ist Größenwahn.

    Aber du verkaufst nur, wenn du entweder dumm genug bist, das alles zu glauben.
    Oder skrupellos genug, dass es dir egal ist.

    Ich war keins von beidem.
    Ich hatte meine Zweifel.
    Und Zweifel riecht der Kunde wie kalten Rauch.
    Dann kauft er nicht.
    Ganz einfach.

    Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich nicht hätte skrupelloser sein müssen.
    Für ein besseres Leben. Für mehr Geld. Für das, was andere „Erfolg“ nennen.

    Aber dann denke ich:
    Vielleicht war es besser so.

    Ich habe nie gelernt, Menschen etwas wegzunehmen, nur um es ihnen teuer zurückzuverkaufen.

    Und das ist vielleicht das einzige Kapital, das ich wirklich besitze.


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  • Kapitel 42: Die Stimme in der Leitung

    Ich habe mir das selbst beigebracht.
    Telefonieren. Recherchieren. Menschen lesen.
    Nicht mit einem Handbuch. Sondern mit Intuition. Und Routine.

    Ein Unternehmensberater setzte sich irgendwann neben mich.
    Nicht, um mich zu bewerten – sondern zu stoppen.
    Im Wortsinn.
    Stoppuhr in der Hand.
    Er wollte wissen: Wie schnell kann man Auskunft geben, ohne Bullshit?

    Ich war inzwischen der erfahrenste Agent.
    Also war klar: Wenn jemand das Limit misst, dann mit mir.

    17 Sekunden.
    Wenn du die richtigen Fragen stellst.
    Wenn du den Anrufer spürst.
    Wenn du weißt, was wichtig ist – und was nicht.

    Damals war es noch nicht selbstverständlich, bei einer Telefonauskunft durchzukommen.
    Und es war auch nicht selbstverständlich, dass man wusste, wie viele Leute man bräuchte, um 30.000 Anrufe am Tag zu bewältigen.
    Wir haben es ausprobiert.
    Live.
    Im laufenden Betrieb.

    Einmal im Jahr kam dann der Beweis, wie unberechenbar Menschen sind: Silvester.
    Kurz vor Mitternacht kannst du runterfahren.
    Nach Mitternacht auch.
    Aber Punkt null Uhr?

    Massensport.
    Ein halbes Land testete, ob es durchkommt.

    Sie riefen an, brüllten:
    „Yeah! Ich bin durchgekommen!“
    Und legten auf.

    Nutzlos.
    Aber menschlich.
    Und jedes Mal dachte ich: Wir messen den Wahnsinn mit Anrufzahlen.

    Zwischen 1 Uhr und 4 Uhr nachts brauchst du dann wieder zwei Agents.
    Mehr nicht.
    Es sei denn, irgendwas passiert.

    Wenn etwas Großes in der Republik los war, hast du das an der Leitung gespürt.
    Du wusstest nicht was – aber du wusstest, dass.
    Der Fluchtversuch aus Santa Fu war so ein Moment.
    Das Anrufvolumen explodierte.

    Und ja – auch die Polizei rief uns an.
    Damals jedenfalls.
    Heute ist das Internet die Auskunft.

    Wir waren die erste Mobilfunk-Telefonauskunft in Deutschland.
    Das war neu. Und es hatte Konsequenzen.
    Plötzlich riefen Prominente an. Musiker. Schauspieler. Politiker.
    Wer Mobil war, war bei uns.

    Und mit der Prominenz kam der Datenschutz.
    Verschwiegenheitserklärungen, die bis heute gelten.
    Du weißt, wer sich die Haare färben lässt.
    Aber du sagst es nicht.

    Einmal versprach uns Willy Michl, der bayerische Indianer, ein Konzert.
    Er war begeistert von unserem Service.
    Er meinte: „Ruft einfach an, ich spiele für euch.“
    Ein Geschenk. Eine Geste.

    Ich habe nie angerufen.


    Der Ton macht den Menschen

    In einem Massencallcenter lernst du alles kennen, was die Menschheit zu bieten hat.
    Das Gute. Das Schlechte. Das Dazwischen.
    Alles.
    Im Sekundentakt.

    Da sind die Aufbrausenden.
    Die, bei denen du sofort spürst: Nur ein falscher Ton – und die Leitung brennt.
    Du brauchst kein Psychologiestudium.
    Nur Erfahrung.
    Ein Satz, eine Stimmlage, eine Begrüßung – und du weißt, ob du heute eine Beschwerde am Hals hast oder nicht.

    Dann sind da die Netten.
    Die, die einfach nur quatschen wollen.
    Die deine Gesprächszeiten ruinieren, obwohl sie eigentlich nur Gesellschaft suchen.
    Auch sie musst du aus der Leitung bekommen.
    Nicht unhöflich. Nicht abwürgen.
    Nur effizient.

    Nach ein paar tausend Anrufen entwickelst du etwas, das man schwer erklären kann.
    Ein Gefühl. Eine Reaktionszeit unter einer Sekunde.
    Du weißt, wie du auf wen reagieren musst.
    Und du wechselst Rollen. Namen. Tonlagen.

    „Stellen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten durch!“

    Was der Anrufer nicht weiß: Der Vorgesetzte sitzt schon in der Leitung.
    Du.
    Nur mit einem anderen Namen.

    Also stellst du dich selbst durch.
    Gehst an den Gruppenleiterplatz. Meldest dich wieder.
    Diesmal mit ruhiger, autoritärer Stimme.
    Und plötzlich: Der Rüpel von eben ist butterweich.
    Freundlich.
    Fast unterwürfig.

    Gleicher Mensch. Gleiche Leitung.
    Nur ein anderer Name.

    Es ist erschreckend, wie manche mit dir sprechen, wenn sie glauben, du bist „nur“ ein Callcenter-Mitarbeiter.
    Und wie sie sich verhalten, wenn sie meinen, du bist Vorgesetzter.

    Ich habe es oft erlebt.
    Und jedes Mal war es ein Spiegel.
    Für sie. Für mich. Für unser ganzes System.

    Der Ton macht nicht nur die Musik.
    Er macht den Menschen sichtbar.



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  • Kapitel 41: 17 Sekunden

    Geld hatte ich nie. Vielleicht am ehesten während meiner Zeit in der Telefonauskunft.
    Davor: Schreibdienst. Danach: IT-Support. Dazwischen: eine Fügung.
    Die Berufsgenossenschaft schickte mich in eine Depression. Der Therapeut empfahl das Abendgymnasium. Und gleich nebenan: ein Pilotprojekt – die erste private Telefonauskunft Deutschlands.
    Ich klopfte an.

    Fünf Leute waren wir.
    Der Inhaber. Ein Geschäftsführer. Ich. Ein Planer. Ein Agent.
    Ein Start-up, bevor es das Wort dafür gab.

    Die Muttergesellschaft verkaufte ihre Auskunftssoftware auch an die Telekom. Wir benutzten sie – unsere eigene Auskunftssoftware.
    Der Laden wurde hergerichtet wie eine Visitenkarte. Repräsentanz. Präsentationsobjekt.
    Manchmal pinselten wir sogar Steckdosen in Teppichfarbe, damit sie nicht störten.
    Der Künstler, der die Räume gestaltete, war mehr Gastgeber als Handwerker.

    Tagsüber Telefonauskunft, abends Gymnasium.
    Zumindest der Plan.
    In Wahrheit drehte es sich bald.
    Ich wurde Schulungsreferent, entwickelte Personaleinsatzplanung, programmierte PEP.
    Und irgendwann reichte ich nicht mehr nur Gespräche weiter – sondern Ideen.

    Einmal wurde ich an den Mutterkonzern „ausgeliehen“, um die Auskunftssoftware zu verbessern.
    Ich hatte eine Idee: Geographische Umkreissuche.
    Fixpunkt: ein Ort in der Schweiz.
    Nicht genial – aber funktional.
    Es funktionierte.
    Wie vieles in meinem Leben.

    Ich sagte immer: „Ich bin kein Programmierer.“
    Und das war auch gut so.
    Meine Einsatzplanung schrieb Daten auf Festplatte und holte sie sich wieder zurück – langsam, ineffizient, wie durch Schlamm.
    Bis ein Student neben mir stand und fragte:
    „Warum schreibst du das nicht in ein Array?“
    Antwort: „Weil ich Array nie gelernt habe.“

    Und plötzlich lief alles schnell.

    Learning by doing.
    Das war mein Studium.
    Windows 3.1? Lächerlich. Kein Papierkorb.
    Mein Atari ST in den Achtzigern konnte mehr.
    Microsoft war immer schon ein Witz für mich.

    Privat hatte ich früh Linux. SLS war meine erste Distribution.
    Davor: Boot- und Rootdiskette aus einer Computerzeitschrift.
    Beim Mutterkonzern: AIX im Backend, DOS als Client, VI als Editor.
    Bis heute: Vim auf der Kommandozeile.
    Nano? Nein danke.

    17 Sekunden – so lange darf eine Telefonauskunft dauern, wenn man sie richtig führt.
    Ein durch Messung eines Unternehmensberaters bestätigt.
    Mit der richtigen Frage.
    Mit dem richtigen Ohr.

    Und vielleicht war das mein Talent:
    Den Punkt finden.
    Im Code. In Gesprächen.
    Im Leben.


    Die Kapitel waren geschrieben für Kieselsteinchen.de

    Dann so beim Einstellen,
    ich vergesse den Künstler nicht,
    wie ich mit ihm die Wände der Visitenkarte dekorierte.
    Wir über die Telefonscheibe weiter links,
    oder doch weiter rechts diskutierten.

    Ich ihn fragte wie er dazu kam,
    dem Besitzer hätten in Schwabing seine Bilder gefallen.
    Und klar als Künstler gegen Geld eine ganze Etage austatten:
    Wow – ja warum nicht.

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  • Kapitel 40: Stimmen am Draht

    Nach dem Schreibdienst kam die Telefonauskunft. Seriös. Amtlich fast. Die Stimme fest, das Wissen prompt. Man war Stimme im Nichts, Orientierung für andere.
    Davor: eine andere Leitung. Achtziger Jahre. Anzeigenverkauf im Namen einer deutschen Polizeigewerkschaft.
    Nicht direkt, versteht sich. Die Gewerkschaft bleibt sauber. Die Drecksarbeit machen andere.
    Outsourcing von Scham.

    Die Polizei – ein Produkt. Ehrlich, sauber, sicher.
    Ein Türöffner am Telefon.
    „Guten Tag, im Namen der Polizeigewerkschaft …“
    Das zieht.
    Zieht Geld aus Firmen, die glauben, sie tun Gutes. Für das Ansehen. Für den Schutz.
    Aber sie kaufen sich nur ein in ein Heft, das mehr Anzeigen druckt als Inhalte.
    Ein teures Alibi.

    Wer da wie viel kassiert? Völlig irre. Keine Relation zu realem Marktwert.
    Ich konnte das nicht lange mit mir vereinbaren.

    Noch schlimmer davor: Drückerkolonne.
    Einem vermeintlichen Unfallopferhilfswerk. Klingt gut. War Dreck.
    Sechs Wochen im rollenden Wahnsinn.
    Menschen rekrutiert, in Wohnungen gesteckt, abhängig gemacht.
    Haustür für Haustür, Klinke für Klinke.
    Mitgliedschaften verkauft für ein Scheinhilfswerk, dessen Hauptziel es war, Menschen auszunehmen.

    Abschlussgebühren ausgezahlt, Stornos einkalkuliert.
    Ein System aus Schuld, Druck und Abhängigkeit.
    Ich sah, wie ein Kolonnenleiter einem ins Gesicht schlug. Quote zu schlecht.

    Ich ging. Einfach weg.
    Vor es zu spät war.
    Vor ich selbst Teil wurde dieses „legalen“ Verbrechens.

    Und bis heute?
    Niemand tut etwas dagegen.
    Weil es niemand sehen will.
    Oder weil es zu viele kennen – aus der anderen Perspektive.


    Merke schon die Kieselsteinchen werden immer kürzer.
    Als ich dies hier einstellte, viel mir noch der „Kollege“ ein,
    der sich nicht direkt als Polizist ausgab,
    aber doch mit dem Polizeigewerkschaftslogo,
    in der S-Bahn rumspielte.

    Wie auch immer diese Info zum Drückerkollonencallcenter kam,
    er wurde entsprechend runtergebürstet.

    Ob nun der Telekommitarbeiter die Leitung prüfen will,
    der scheinbare Sanitäter vor der Haustür steht,
    der Finanzberater am Telefon Geld sparen will,
    die großen Namen die Türe öffnen sollen,
    es wird nicht nur geduldet,
    es ist gewollt.

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  • Kapitel 39 – Der Mann im Schreibdienst

    Ob die Bundeswehr mich stabiler gemacht hat?
    Ich weiß es nicht.
    Aber während die 80er Jahre in meinem Lebenslauf
    wie ein wilder Zirkus aus
    28 Firmen daherkamen,
    waren die 90er Jahre
    ein Bild der Konstanz:
    Zwei Firmen.
    Zwei Stationen.
    Zwei Inseln.

    Und die erste davon
    war eher eine Sandbank.


    Nach der Entlassung aus dem Dienst
    vermittelte mich das Arbeitsamt
    zur Berufsgenossenschaft.
    Ziel:
    Zehnfingerblind schreiben lernen
    und Phonodiktate tippen.
    Ein Job, den es heute
    nicht mal mehr auf LinkedIn gäbe.
    Und ich war –
    der einzige Mann
    im Schreibdienst.

    Das allein wäre noch kein Drama.
    Aber es war ein Sterbezimmer der Motivation,
    ein tristes Bürokratiegrab,
    gefüllt mit Diktatbändern
    und kafkaesken Aktenvorgängen.

    Ich tippte.
    Nur tippte.
    Aber ich las eben auch,
    was ich da tippte.


    Ein Fußkranker,
    dem man 40 Kilometer durch die Gegend schickte
    für ein Gutachten,
    damit er orthopädische Schuhe
    im Wert von 40 D-Mark bekommen konnte.
    Aber die Gutachten
    kosten das Zehnfache.
    Ein Irrsinn,
    der sich nicht versteckte,
    sondern mir täglich ins Gesicht grinste.

    Oder der Streit
    um Zentimeter:
    War es noch ein Wegeunfall,
    oder war der Schritt
    auf den Gehsteig schon
    Privatvergnügen?

    Ich saß in der Mühle
    zwischen Krankenkassen,
    Gutachtern
    und Juristen,
    und meine Intelligenz
    war mir dabei eher im Weg.


    Ich merkte,
    wenn ein Sachbearbeiter Mist gebaut hatte.
    Wenn das Diktat nicht zum Akt passte.
    Wenn Unlogisches
    wie amtliches behandelt wurde.
    Aber ich war eben
    nur die Schreibkraft.
    Nicht gefragt. Nicht befugt.

    Und dann war da
    noch der Geschlechteraspekt.
    Wenn ein Tippfehler zurückkam,
    wurde auf dem Flur geraunt:
    „Das war bestimmt wieder der Mann.“

    Ich war es oft nicht.
    Aber das spielte keine Rolle.
    Ich war der Fremdkörper
    im Frauenteam,
    also musste der Fehler
    automatisch ich sein.


    Aber ich lernte.
    200 Anschläge die Minute.
    Fehlerfrei.
    Schnell.
    Zuverlässig.
    Denn ich wollte
    diesen Spruch
    „Das war bestimmt wieder der Mann“
    nicht auf mir sitzen lassen.


    Es war eine triste,
    deprimierende Episode.
    Aber auch eine
    Lehrzeit:
    Wie tickt Bürokratie?
    Was richtet Misstrauen an?
    Wie fühlt sich
    strukturelle Abwertung an?

    Heute ist das
    nur eine Fußnote.
    Aber sie hat
    einige wichtige Zeilen
    in mein Verständnis von Systemen
    und Menschen
    geschrieben.



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  • Kapitel 38 – Eine Dichterlesung, ein Wochenende, ein ganzes Leben

    Es war des Studenten Geburtstag.
    Mödling, 1994.
    Eine Dichterlesung.
    Man könnte meinen,
    so etwas sei harmlos,
    kulturell,
    ein Abend unter Schöngeistern.
    Aber es war alles andere
    es war schicksalhaft.

    Meine zukünftige Frau,
    eine Russin,
    war ebenfalls eingeladen.
    Ich kannte sie nicht,
    nur des Studenten Erzählungen:
    Wiener Kaffeehaus, Gespräche,
    eine interessante Frau.
    Und der Student hatte Geschmack –
    das wusste ich.
    Wer mit ihm konnte,
    war auch für mich ein Mensch
    zum Hinschauen.

    Ich las etwas
    aus einem unveröffentlichten Theaterstück.
    Ich halte es bis heute für schlecht.
    Sie las etwas über eine Katze.
    Aber vielleicht ging es nicht darum,
    was wir lasen.
    Es war eine Choreografie
    des Umschleichens.
    Ein Abtasten.
    Wer bist du?
    Was frisst du?

    Sie fragte den Studenten,
    ob Arnold verschwinden würde
    Und der Student –
    klug wie immer –
    sagte nur:
    „Keine Angst, Arnold bleibt über das Wochenende.“

    Damit war alles gesagt.
    Zwischen den Zeilen.
    Und hinter den Blicken.


    Wir kamen uns näher.
    Nicht laut.
    Nicht kitschig.
    Aber ernsthaft.

    Und ich dachte:
    Ist das möglich?
    Kann das jetzt schon so sein?

    Also tat ich etwas,
    was ich sonst nicht tat:
    Ich holte meinen Schulfreund nach Wien.
    Mein Schulfreund,
    mein bester Freund,
    mein Sparringspartner,
    mein Realitäts-Check.
    Er sollte
    sie anschauen.
    Nicht misstrauisch –
    nur vorsichtig.
    Denn auch Verliebtheit
    hat Platz für Vernunft.

    Und der Schulfreund –
    gab seinen Segen.


    Dann sagte ich ihr
    lauter schreckliche Dinge über mich.
    Die Abbrüche.
    Die Irrwege.
    Die Brüche und Widersprüche.
    Ich legte mich offen.

    Und sie?
    Sie nickte.
    Ruhig.
    Nichts schreckte sie ab.
    Nichts ließ sie zurückweichen.

    Nach einer Woche
    sagte ich:

    „Dann heiraten wir.“

    Und sie antwortete:
    „Ja.“

    Nicht als Frage.
    Sondern als
    Beschluss.


    Ja, es dauerte noch ein wenig.
    Formulare, Behörden, der übliche Kram.
    Aber eigentlich
    waren wir ab da verheiratet.
    In unserem Herzen.
    In unserem Willen.
    In unserer Entschiedenheit.

    Und jetzt –
    über 30 Jahre später –
    sind wir es immer noch.

    Denn manchmal
    entscheidet sich ein ganzes Leben
    an einem einzigen
    Wochenende.
    Bei einer
    Dichterlesung.



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  • Kapitel 37 – Zwei Freunde, eine Frau und eine Domain

    Meine Frau,
    sie war – ohne es zu wissen –
    Knotenpunkt und Katalysator.
    Zwei Freunde verband sie miteinander.
    Der eine wurde
    mein Trauzeuge.
    Und ist es bis heute geblieben.
    Der andere –
    ich verlor ihn.

    Es war besonders,
    denn er war mein engster Schulfreund
    aus unserer gemeinsamen Schulzeit.
    Einer, mit dem man nicht nur lachte,
    sondern auch dachte.
    Stundenlang.
    Diskussionen.
    Seine Masterarbeit
    wir haben sie durchgeackert.
    Zusammen.
    Seite für Seite.
    Gary S. Becker stand im Zentrum.
    Und seine Kritik war präzise,
    klug und vor allem:
    gerechtfertigt.

    Denn was nützt eine Theorie,
    wenn sie nicht hält,
    was sie vorgibt?
    Wenn sie die Welt falsch erklärt,
    falsche Entscheidungen rechtfertigt,
    falsche Politik hervorbringt?

    Ich war enttäuscht,
    dass er nie eine Dissertation daraus machte.
    Er hätte den intellektuellen Atem gehabt.
    Die analytische Schärfe.
    Aber vielleicht fehlte ihm
    der Wille zum Sturm.


    Er stellte mich damals
    seinem Professor vor.
    Ich war stolz,
    neugierig –
    bereit für das Gespräch.

    Doch dann kam dieses Wort:
    Extrapolation.
    Ich war jung,
    unsicher.
    Und ich war
    zu feige nachzufragen.
    Ich nickte,
    verstand nichts
    und versagte mir selbst den Zugang.

    Ein Fehler,
    den ich später nie wieder machte.
    Nie wieder zu stolz,
    zu eitel,
    um zu sagen:
    „Ich verstehe das nicht – bitte erklär’s mir.“


    Dann kam Babsi.de.
    Eine Idee.
    Ein Projekt.
    Eine Domain,
    die ich heute noch habe:
    BauAbsichtenSystemInformationen
    (kurioser Name – ja –
    aber mit Herzblut gedacht.)

    Eine Art
    Immobilienscout24,
    lange bevor das groß wurde.
    Wir wollten
    strukturierte, transparente Immobilieninfo
    mit Bauabsicherungen verknüpfen.
    Innovativ.
    Mutig.

    Doch als es ernst wurde,
    als aus Träumen
    Verantwortung wurde,
    nahm er Reißaus.
    Schlich sich davon.
    Verdrückte sich.

    Der Feigling.

    So hart das klingt –
    aber genau so fühlte es sich an.
    Ein Freund,
    der nicht blieb,
    wenn’s real wurde.


    Manchmal sind die größten Verluste
    nicht die materiellen.
    Sondern die,
    bei denen man gemeinsam
    Zukunft gedacht hat –
    und sie dann
    allein weiterdenken muss.



    [Zum Buch]

  • Kapitel 36 – Lebenslauf: Zu viel für ein Blatt Papier

    12 Monate.
    Statt 20.
    Oder 16.
    Nur ein Jahr Bundeswehr –
    die Wehrzeitkürzungen hatten zugeschlagen.
    Und mit den anderen „Ausscheidern“,
    die noch 16 Monate gemacht hatten,
    ging es für mich
    ab zum Arbeitsamt.
    Der Ernst des Lebens,
    wieder mal.

    Ein Lebenslauf sollte es sein.
    Ehrlich.
    Alles rein, was ich gemacht hatte.
    Na gut, dachte ich –
    daran soll’s nicht scheitern.
    Ich schrieb. Und schrieb.
    Zwei abgebrochene Lehren,
    unzählige Jobs,
    praktisch alles außer Langeweile.

    Doch der Kursleiter
    sah das ganz anders.
    Das geht so nicht.
    Es war ihm schlicht zu viel.
    Zu wirr.
    Zu chaotisch.
    Aber es war halt die Wahrheit.


    Ich hatte das BGJ-Bau gemacht,
    und dabei gleich ein Schwimmbad gebaut –
    mit den eigenen Händen.
    Loch von Hand gegraben,
    weil keine Betonpumpe den Garten ruinieren sollte.
    Ytongsteine aufgesetzt,
    mit Zement verfüllt,
    Stahlbewehrung in die Fugen.
    Der Maurermeister meines Vaters
    meinte:
    Sauber gemacht.
    Aber halt –
    kein Gesellenbrief.

    Ebenso wie die Zimmererlehre,
    abgebrochen.
    Und doch auf Dächern rumgeturnt,
    verschalt, genagelt,
    zum Beispiel einer Tierklinik in München.
    Nicht offiziell,
    aber echt.
    Ein Arbeiterleben in Fußnoten.


    Dann war da die Teppichkette:
    Teppichrollen eingehängt,
    zugeschnitten.
    Wehe, so eine macht sich selbstständig –
    dann kracht’s.
    Beim Bremsen einer losrollenden Teppichbombe
    den Arm verbrannt.
    Passiert.

    Bäckereikette
    frühmorgens Brötchen und Backwaren
    in die Münchner Filialen gefahren.
    Nur sechs Monate,
    aber die Touren saßen.
    Pünktlich. Beladen. Entladen.

    Und dann die CD-Rohlinge
    Schleifen,
    Polieren.
    Damals war das noch echte Industrie.
    Metalldiscs,
    aus denen später Millionen CDs gepresst wurden.
    Das war prä-digitale Präzision.


    Und dann –
    Wien.

    Genauer:
    der Gürtel.
    Mein Ford Capri blieb liegen,
    und wer tauchte auf?
    Ein Student, der mir fortan ein wichtiger Freund wurde.

    Er half mir, das Auto
    aus dem Verkehr zu schieben.
    Und im Gespräch fragte er:
    „Kannst du ausmalen?“
    Ich verstand nicht gleich.
    „Was meinst du?“
    „Malerarbeiten,
    für mein Haus in Niederösterreich.“

    Klar doch.

    So begann Wien.
    Zwei Jahre.
    Einer Adresse in Mödling.
    Der Student bot mir an, bei ihm zu wohnen,
    statt im Auto.
    Aus einem Gefallen
    wurde eine Freundschaft.


    Ich machte weit mehr
    als ausmalen:
    einen Stukkolustro,
    eine „Korktür“,
    die eine Wand war
    und doch nicht –
    mit einer cleveren Verriegelung
    über ein verstecktes Fenster-Schloss.
    Die Tür sah aus wie eine Korkpinnwand.
    Eine Tür,
    die eine Nicht-Tür war.
    Ein bisschen Magie aus Baumarktmaterial.

    Dann das Bad
    selbst verfliest.
    Ich war stolz auf das Bodenmuster.
    Damals hielt ich es für genial.
    Heute?
    Ach, sagen wir,
    es war liebevoll gepuzzelt.


    Der Student blieb ein Freund.
    Bis heute.
    Und da war noch etwas
    eine Dichterlesung bei ihm.
    Und dort:
    Sie.

    Meine Frau.

    Nicht geplant.
    Nicht gesucht.
    Einfach geschehen.
    So wie vieles in meinem Leben:
    durch ein Gespräch,
    einen Zufall,
    ein Missgeschick
    am richtigen Ort.


    Ein Lebenslauf?
    Ja.
    Nur dass meiner
    nicht auf ein Blatt Papier passt.
    Eher in ein Buch.
    Oder zwei.



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