Kieselsteine

  • Kapitel 60: Die Ex bei der Hochzeit

    Die Welt schaute verwirrt.
    Studienkollegen in Wien,
    jung, aufgeklärt,
    und doch nicht frei von Normen.

    „Was macht denn die da?“
    Die –
    war meine Ex.

    Acht Jahre älter,
    musikalisch, klug,
    Sonderschullehrerin mit großem Herzen
    und noch größerer Erschöpfung.

    Wir hatten geliebt,
    uns getrennt,
    uns behalten.
    Nicht im Bett –
    aber im Leben.

    Sie fuhr die Hochzeitsgesellschaft
    vom Stadtrand Wiens
    in die Stadt.
    Saß mit uns am Tisch,
    als ich meiner Frau das Jawort gab.

    Und meine Frau?
    Die war einfach –
    ganz bei sich.
    Kein Theater.
    Kein Misstrauen.
    Kein Besitzanspruch.

    Sie wusste,
    man kann jemanden lieben
    ohne ihn zu brauchen –
    und jemandem vertrauen
    ohne ihn zu besitzen.


  • Kapitel 59: „Arnold will mich einsperren!“

    Die Worte zerschnitten mir das Herz.
    Nicht laut.
    Nicht wütend.
    Nur wie ein Riss im Gewebe zwischen uns.

    „Arnold will mich einsperren.“

    Ich.
    Der nur helfen wollte.
    Der nicht mehr wusste, wie.
    Der aus der Wohnung ging,
    hinunter zur Telefonzelle,
    um bei einer anonymen Hotline
    einen Menschen um professionelle Hilfe zu bitten.

    Ein Akt der Liebe –
    wahrgenommen als Verrat.
    Eine Zuwendung –
    erlebt als Gefahr.

    Sie war in einem anderen Zustand,
    nicht einfach in einem anderen Raum.
    Meine Frau war dabei –
    nicht ständig, aber doch nah.
    Sie hat gesehen,
    wie die Realität zerbrach
    und eine andere Welt entstand.

    Später schrieb sie auf, was sie gesehen hatte:

    Eine Frau mittleren Alters.
    Die langen Haare zerzaust, die Kleidung in Unordnung –
    aber das Verworrenste war ihr Geist.

    Eine Begegnung, die zu viel bedeutete –
    die sich als Seifenblase entpuppte,
    und genau so zerplatzte.

    Es war ein Fall –
    ein nicht aufhörender, ungebremster Fall.
    Ohne Richtung. Ohne Halt.

    Die Frau warf sich von Ecke zu Ecke,
    suchte mit dem Körper das,
    was der Geist nicht mehr greifen konnte.

    Worte erreichten sie nicht.
    Berührung wurde abgewehrt.
    Nur Angst blieb.

    Ich – so schreibt sie –
    versuchte zu beruhigen, zu umarmen.
    Doch sie wich zurück.

    Dann fiel das Wort: Krankenwagen.
    Und mit ihm: neue Panik.

    „Nein! Nein! Ich will nicht eingesperrt werden!“

    Diese Angst – paradox –
    war die erste Brücke zurück in die Wirklichkeit.

    Einer der Männer sprach ruhig auf sie ein.

    Schließlich,
    wie ein zerdrückter Mantel auf dem Boden:
    Schlaf.
    Erschöpfung.
    Stille.

    Am nächsten Tag erinnerte sie sich an nichts.
    Und das war gut so.

    Ich aber –
    ich erinnere mich an alles.
    Nicht laut.
    Nicht täglich.
    Aber wenn es Nacht wird,
    zwischen zwei Gedanken,
    in den Ritzen des Alltags –
    dann ist es da.

    Diese eine Stimme:

    „Arnold will mich einsperren.“

    Und ich weiß,
    was sie eigentlich sagte:
    „Arnold – bitte halt mich.“

  • Kapitel 58: Bedeutungslos

    Ich war vierzehn oder fünfzehn –
    das Alter, in dem man beginnt,
    mit sich selbst zu ringen
    ohne zu wissen,
    ob man kämpft oder tanzt.

    Internat.
    Haus Geschwister Scholl.
    Ein Ort, der schon im Namen Verantwortung trug
    und Haltung einforderte,
    auch wenn man nur ein Junge war,
    der Geschichten schreiben wollte.

    Ich hatte mir in den Kopf gesetzt,
    eine bedeutungslose Geschichte zu schreiben.
    Ganz bewusst. Ganz entschieden.
    Eine Geschichte, in der nichts passierte,
    nichts aufgelöst wurde,
    nichts erklärt.

    Weil ich wissen wollte,
    ob das geht.
    Ob es Raum gibt
    für das Nicht-Spektakuläre.

    Eine Geschichte ohne Pointe.
    Ohne Botschaft.
    Ohne Held.
    Ein Vakuum,
    in dem der Leser selbst Bedeutung suchen müsste
    – oder daran scheitern.

    Der Lehrer, der sie las,
    blätterte kurz,
    dann sah er mich an wie einen kaputten Stuhl
    und sagte nur:
    „Was soll das?“

    Ich zuckte mit den Schultern.
    Er hatte es nicht verstanden.
    Vielleicht konnte er es auch nicht.

    Ein anderer Lehrer verstand mehr.
    Bodo Weidemann.
    Der gab mir Marx zu lesen – „Arbeit“.
    Nicht, weil ich darum gebeten hätte,
    sondern weil er etwas sah,
    was ich selbst nicht sehen konnte.

    Dasselbe Jahr:
    Ich verschlang John F. Kennedys Zivilcourage.
    Ein schmales Buch,
    aber es traf mich wie ein Fels in der Brandung.
    Pflicht gegen Angst.
    Redlichkeit gegen Bequemlichkeit.

    Ich wusste nicht,
    dass es nicht normal war,
    solche Bücher zu lesen mit vierzehn.

    Ich wusste nur:
    Etwas in mir wollte verstehen.
    Die Welt.
    Die Macht.
    Den Zweifel.

    Vielleicht war ich klug.
    Vielleicht auch nur früh verbogen.

    Aber klug genug,
    um zu ahnen,
    dass Geschichten ohne Bedeutung
    nur dann erzählt werden dürfen,
    wenn man sie durchdrungen hat.

  • Kapitel 57: Zug nach Hannover

    Es war Anfang der 90er, eine CEBIT-Reise. Hannover, eine dieser Messen, bei denen sich Zukunft und Gegenwart in Kabeln verheddern. Wir saßen im Zug, meine Frau und ich, München – Hannover, das ist Strecke, genug Zeit für Gespräche. Im Abteil ein Herr, höflich, interessiert. Politik kam auf, wie so oft, dies und das, Deutschland, die Welt. Irgendwann, nach einer Weile, sah er mich an und sagte: „Sie sind etwas ganz Besonderes.“

    Ich war irritiert. „Wieso das denn?“

    Er lächelte. Ja, als Sekretär ehemaliger Bundespräsidenten könne er das beurteilen, das sei kein Dahergesagtes. Nein, nicht von Walter Scheel direkt, aber eben einer von denen, die diesen eigenartigen Job tun – das Leben nach dem Schloss Bellevue begleiten. Die Briefe beantworten, Termine sortieren, alles, was übrig bleibt, wenn die Scheinwerfer ausgehen, aber die Verantwortung bleibt. Und er bekomme viel mit. Und meine Art, mein Denken – das sei ihm aufgefallen.

    Ich vergaß fast, ihn zu fragen, welcher Präsident es gewesen war. Ist mir entglitten. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen. Es war einer dieser Sätze, die einfach stehen dürfen.

    Vielleicht auf der Rückfahrt – oder war’s doch schon auf der Hinfahrt? – saß eine ältere Dame im Abteil, ganz leise, unauffällig. Aber ihre Augen klebten förmlich an den Fingern meiner Frau, die strickte. So ein konzentrierter Blick, halb Neugier, halb Ehrfurcht. Ich beobachtete das eine Weile und sprach sie dann an. „Möchten Sie nicht fragen?“ Meine Frau hatte nichts bemerkt, war ganz bei der Wolle. Dann kamen sie ins Gespräch. Zwei Generationen, zwei Stricknadeln, und plötzlich war meine Frau die Lehrmeisterin.

    In Hannover bei unserer Gastgeberin, einer über neunzigjährigen Dame, brachte meine Frau auch ihr noch etwas bei. Etwas mit Händen, mit Gefühl, mit Tradition. Ich verstand von der Technik wenig, aber ich begriff: Auch meine Frau war etwas Besonderes.

    Da waren wir, Anfang unserer Ehe, zwei junge Menschen, die durch Zufall und Zugabteilgespräche langsam begreifen, dass sie vielleicht nicht ganz gewöhnlich sind. Nicht laut, nicht berühmt, aber anders. Besonders. Still besonders.



    Zug nach Hannover

    Wir fuhren zur CEBIT.
    Hannover. Anfang der Neunziger.
    Ich und meine Frau –
    im Abteil ein Fremder,
    der bald keiner mehr war.

    Wir redeten.
    Politik. Gesellschaft.
    Dies und das.
    Nach einer Weile sagte er:

    „Sie sind etwas ganz Besonderes.“

    Ich fragte: „Wieso das denn?“

    Er war Sekretär eines ehemaligen Bundespräsidenten.
    Nein, nicht von Walter Scheel,
    aber eben: einer von denen,
    die noch lange nach Bellevue
    Briefe schreiben und Termine verwalten.
    Der Nachglanz der Macht.

    Er bekomme viel mit,
    sagte er.
    Und meine Art –
    die sei ihm aufgefallen.

    Vielleicht war’s die Hinfahrt.
    Vielleicht die Rückfahrt.
    Jedenfalls war da auch diese ältere Dame.
    Sie starrte auf die Hände meiner Frau,
    wie sie strickte.

    Ein Blick –
    halb Neugier,
    halb Ehrfurcht.

    Ich sprach sie an.
    Sie kamen ins Gespräch.
    Und die Jüngere brachte der Älteren noch etwas bei.
    So einfach war das.
    So still besonders.


  • Kapitel 56: Der Glückstreffer

    Altmiete, 1994. 540 Mark kalt. Ich hab sie geschossen wie ein Lottogewinn. Donnerstagszeitung der Süddeutschen, aber Mittwochabend schon direkt am Verlag abgeholt. Ich wusste, dass Timing alles ist. Immobilien durchgeblättert, Makler Römer – gleich aus der Telefonzelle angerufen. Kein Handy, kein WhatsApp, keine KI, nur Münze, Finger, Hoffnung. Ich bekam einen Termin.

    Später stellte sich raus, am nächsten Tag ging nur noch der Anrufbeantworter ran. Drei Termine habe sie gemacht, sagte man mir. Ich war einer davon. Vielleicht war’s Zufall, vielleicht war’s, weil wir als „nettes Ehepaar“ durchgingen. Egal. Wir bekamen sie.

    Die Miete ist seither gestiegen, aber für Münchner Verhältnisse ist sie immer noch ein Geschenk. Eine Etage über uns, gleicher Schnitt, später vermietet – 1000 Euro kalt. Und auch das ist mittlerweile fast schon günstig. Neuvermietung? 70 Quadratmeter, 1200 kalt. Und dafür kleben die Leute Zettel an Laternen: „Suche Wohnung 1100–1200 €, bitte hier in der Gegend“ – als wäre Wohnraum ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl.

    Dann neulich auf Immobilienscout: Gratlerhochhaus, 70er-Jahre-Beton, nichts Besonderes. 70 Quadratmeter, 580.000 Euro. Tiefgarage extra: 20.000. Da hat’s mich gerissen. Für denselben Schnitt, für denselben Massenbau. Früher Sozialbau, heute Investitionsobjekt.

    Ich hab Glück gehabt. Das ist alles. Ich hab rechtzeitig den Hörer abgenommen. Heute müsste ich wahrscheinlich umziehen oder würde irgendwo bei Dachau landen. Aber ich bin noch hier. In München. Und das ist heute schon sowas wie Reichtum. Ohne dass du was getan hast – außer zur richtigen Zeit in der richtigen Telefonzelle zu stehen.



  • Kapitel 55: Der faule Hund

    Vielleicht bin ich wirklich ein fauler Hund. Oder sagen wir: einer, dem seine Intelligenz immer wieder in die Quere kam. Alles beginnt mit der Umschulung in der fünften Klasse. Der Stammhalter der bürgerlichen Familie bringt eine Fünf in Latein und eine Fünf in Deutsch nach Hause. Krise. Versetzung gefährdet. Was wird nur aus dem Jungen?

    Aber eigentlich begann es schon früher, viel früher – in der ersten Klasse. Ich wurde wieder rausgenommen. „Zu verspielt“, hieß es. Die Dorfschule in Kranzberg, das war nichts für mich. Stattdessen sollte es die Knabenschule in Freising sein. Strenge. Ordnung. Leistung.

    Ich aber spielte lieber mit dem Sohn eines US-Amerikaners, schaute den Tauben am Fenster zu und verlor mich in Gedanken. Meine Welt war eine andere. Ich sprach bairisch, wie es eben auf dem Land gesprochen wurde. Mein Freund wurde der alte Schausepp, der vorm Iberlwaschhaus saß, keiner verstand ihn mehr, aber ich verstand ihn. Er erzählte vom Dengeln der Sensen, vom 19. Jahrhundert, von Arbeit, harter Arbeit. Ich hörte zu. Ich sog es auf.

    Doch all das war nicht gefragt. Mit dem Schulversagen wurde mir das Bairische gründlich ausgetrieben. So gründlich, dass ich es heute nicht mehr spreche. Außer – wenn’s mich packt. Wenn einer dieser tiefen emotionalen Momente kommt, in denen das Kind, das ich mal war, wieder an die Oberfläche tritt. Dann spricht es aus mir. Dann ist es plötzlich wieder da, das Bayerisch, das mich geprägt hat, das mir aber aberzogen wurde, wie man einem Hund das Bellen abtrainiert.

    Und trotzdem erinnere ich mich. An den alten Schausepp. An die Tauben. An das Jahr 1969. An die Übertragung der Mondlandung. Ich war vier. Und ich weiß noch genau, wie es war, als der Mensch den Mond betrat – und ich gerade begann, meine Sprache zu verlieren.



  • Kapitel 54: Kein Ende in Sicht

    Als ich 2020 auf Twitter schrieb:
    „Mein Land ist in einer Abwärtsspirale. Sie lieben die Faschisten mehr als die Freigeister und die Minderheiten“
    da wusste ich noch gar nicht, wie tief es gehen würde.

    Damals war das Gefühl schon da.
    Aber der Absturz, der kam erst noch.

    Querdenker.
    Wissenschaftsverweigerung.
    Ein ganzes Land im Griff von Menschen,
    die lieber an Youtube-Videos glauben
    als an evidenzbasierte Medizin.

    Track, Trace and Isolate.
    Es stand alles im Gesetz.
    Nicht mal neu.
    Seit H5N1 – Vogelgrippe – 1997.
    Ein Pandemieplan,
    der einfach nur umgesetzt hätte werden müssen.

    Aber statt Handeln: Angst.
    Statt Wissenschaft: Politikpanik.
    Im März 2020 wurden die Gesetze geändert.
    Nicht, weil sie schlecht waren –
    sondern weil sie das Richtige verlangt hätten.

    Man hätte es eindämmen können.
    Man wollte es nicht.

    Und dann:
    Streeck.
    Ein Mann ohne epidemiologische Qualifikation.
    Falsche Studien.
    Falsche Sicherheit.
    Eine Karriere auf Kosten von Aufklärung.

    Die wirklich klugen Stimmen,
    die stillen Fachwissenschaftler?
    Weggehetzt.
    Zum Schweigen gebracht.
    Höchstens Drosten wagte sich hinaus
    und wurde dafür geschlachtet –
    von Medien, Politik, der Straße.

    Und währenddessen:
    Die Union,
    die Freien Wähler,
    die FDP –
    alle hetzen hinter der Demagogie her.
    Dem Wahnsinn auf den Fersen,
    als wäre er Mehrheitswille.

    Und dann die Klimakrise.
    20.000 Wissenschaftler sagen:
    Es ist 5 nach 12.

    Und was macht BILD?
    Hetzt gegen Wärmepumpen.
    Lügt über das „Heizungsgesetz“,
    das eigentlich ein CDU-Gesetz war –
    verabschiedet unter Peter Altmaier,
    nur reformiert von Habeck.

    Und Habeck?
    Der Mann,
    der mit rationaler Sachpolitik
    dieses Land durch eine Energiekrise brachte
    ohne Massenarbeitslosigkeit,
    ohne kalte Wohnzimmer,
    ohne Gasnotstände –
    wird an Galgenpuppen gehängt.

    Von Bauern.
    Von Wutbürgern.
    Von all denen,
    die sich als Opfer fühlen,
    wenn andere mitdenken.

    Dieses Land ist durch.

    Es hört nicht mehr auf die Vernunft.
    Es folgt der Lautstärke.
    Es hasst die Fakten
    und feiert die Empörung.

    Ich habe Angst,
    aber keine Angst mehr, es auszusprechen:
    Die Faschisten marschieren nicht mehr mit Uniform.
    Sie sitzen in Talkshows.
    Sie twittern.
    Sie regieren in Teilen mit.

    Und die alten Parteien?
    Sie schweigen
    oder schleimen sich an.
    Bloß nicht dagegenstellen.
    Bloß nicht verlieren.



  • Kapitel 53: Die Stimme der Firma

    2015 –
    das Jahr von Gazprom,
    Home Shopping Europe,
    Allsecure
    und der leisen Verzweiflung im Überlauf-Callcenter.

    Ich war die Stimme
    für alles.

    Die Stimme von
    Check24.
    Von Gazprom.
    Von HSE.
    Von irgendeiner Billigstrommarke,
    die heute längst unter einem anderen Namen weiterlügt.

    Ich war
    Versicherungsmakler.
    Verkäufer.
    Reklamationsstelle.
    Mahner.
    Versteher.
    Verführer.

    Und das alles in einem Acht-Stunden-Block,
    durchtelefoniert
    mit 30 Sekunden zwischen den Fällen
    – manchmal auch null.


    Im Hintergrund der Fernseher,
    lautlos.
    HSE läuft,
    eine neue Brosche,
    eine neue Einsamkeit.

    Am anderen Ende:
    eine ältere Dame.
    Ruft nicht nur an,
    weil sie die Brosche will.
    Ruft an,
    weil sie jemanden will,
    der ihr sagt,
    dass es eine gute Wahl war.

    Ich bin dieser Jemand.
    Ich sage ihr,
    dass das Schmuckstück traumhaft ist.
    Dass sie Stil hat.
    Dass Gold zu ihrem Hautton passt,
    obwohl ich sie nie gesehen habe.

    Vielleicht flirtet sie ein bisschen.
    Vielleicht tu ich das auch.
    Das gehört dazu.
    Denn ein charmanter Mann
    verkauft Eyeliner besser als jede Frau.

    Das ist Marktwahrheit.
    Absurde Wahrheit.


    Dann klingelt es.
    Jetzt Check24.
    Ein Versicherungswechsel.

    Du musst wissen,
    ob der Kunde aus dem Portal kam
    oder direkt bei Allsecure anruft.

    Gleicher Tarif,
    anderer Preis.
    Rechtslage unklar.
    Transparenz = Katastrophe.

    Aber ich bin jetzt der Versicherungsprofi.
    Rede von Deckungssummen,
    von Sonderkündigungsrechten,
    von SF-Klassen und Rückstufungstabellen.

    Funktioniert nur,
    weil die Software gut ist.

    Und weil ich gelernt habe,
    meine Stimme so klingen zu lassen,
    als hätte ich diesen Job seit zwanzig Jahren.


    Dann kommt Gazprom.

    Ein Kunde will wissen,
    warum sein Strom abgestellt wird.
    Er tobt.
    Er hat Angst.
    Er ist wütend.

    Und ich?

    Ich bin gerade
    das Gesicht des Systems.
    Obwohl ich selbst
    am unteren Rand existiere.

    Aufstocker.
    Hartz-IV.
    Weniger als Mindestlohn,
    wenn man die unbezahlten Pausen rausrechnet.

    Ich kenne seine Welt.
    Ich weiß,
    was es heißt,
    kein Licht zu haben.
    Keinen Kühlschrank.
    Keine Dusche mit Warmwasser.

    Und trotzdem bin ich jetzt der,
    der ihm den Strom nimmt.

    Weil das System mich dazu macht.


    Und während Nina Ruge
    Werbegesicht von PST ist
    und ihr Gas kostenlos bezieht
    für ein paar Worte in der Werbung,

    verklicker ich
    der nächsten Oma
    dass ihr Paket von HSE
    noch in der Auslieferung sei.

    Obwohl es längst verloren ist.

    Sie war vertraglich befreit.
    Ich weiß das,
    weil sie sich bei mir beschwerte.
    Nina Ruge.
    Ein bekanntes Gesicht.
    Ein Werbegesicht.
    Ein Mensch mit Einfluss,
    der gratis Gas bekam
    – und trotzdem meckerte,
    weil da eine Rechnung war,
    die eigentlich nicht hätte da sein dürfen.

    Ja, ein Verstoß gegen den Datenschutz,
    dass ich das erzähle.
    Aber ganz ehrlich?
    Mir ist das heute scheißegal.

    Denn dieses System,
    das ihr alles schenkt,
    nimmt anderen das Letzte.

    Es nimmt denen,
    die morgens aufstehen,
    in Schichten arbeiten,
    den Strom.
    Den Zahnersatz.
    Den Bus zur Arbeit.
    Und bald auch den Respekt.

    Ich war arm.
    Ich war aufstockend.
    Ich war müde.
    Ich war laut.
    2017 noch anonym.
    Peter ohne Gesicht.

    Dann kam .
    Dann kamen Schilder.
    Dann kamen Demos.

    Und heute?
    Heute hab ich durch ein Geschenk etwas Geld.
    Ich bin nicht mehr arm.
    Aber ich weiß noch, wie es war.
    Und ich bin immer noch wütend.

    Denn auch wenn ich jetzt Geld habe –
    das System bleibt dasselbe:
    Die Reichen kriegen Geschenke.
    Die Armen kriegen Kürzungen.
    Und die AfD steht an der Seitenlinie
    und zündelt
    und hetzt
    und vergiftet alles.

    Diese Partei ist das Sprachrohr der neuen Armenverachtung.
    Sie macht Armut nicht unsichtbar,
    sie macht sie zum Feindbild.

    Ich habe mein Gesicht gezeigt,
    damit andere es nicht mehr müssen.
    Damit man sieht,
    dass Armut kein Versagen ist.
    Sondern Ergebnis eines Systems,
    das oben verteilt
    und unten verwaltet.

    Warum sollte ich da Nina Ruge noch schützen?
    Warum sollte ich dieses Spiel mitspielen,
    wo Anstand nur von unten verlangt wird?

    Ich schulde dieser Gesellschaft keine Höflichkeit.
    Nicht, wenn sie sich skrupellos den Schwachen gegenüber zeigt.



  • Kapitel 52: Der Stellvertreter

    Im Rückblick war es ein Fehler,
    mich von Ron bequatschen zu lassen.
    Ich hätte nicht Stellvertreter sein sollen,
    ich hätte vorn stehen müssen.

    Mir war es nicht wichtig genug,
    wer im Rampenlicht steht.
    Ich dachte:
    Wenn die Sache läuft,
    ist es egal, wer sie führt.
    Aber das stimmt nicht.
    Nicht in der Politik.


    Ron spielte sein Spiel –
    und ich ließ ihn gewähren.
    Ein Intrigenspiel,
    das im März 2017 seinen Höhepunkt fand
    und das Bündnis Grundeinkommen zersetzte.

    Vielleicht irre ich mich.
    Vielleicht überschätze ich seine Rolle.
    Aber das ist,
    wie es sich für mich darstellt.

    Und ich?
    Ich war Teil davon.
    Nicht nur Opfer.

    Ich trug meinen Teil der Verantwortung,
    weil ich zu weich war,
    zu diplomatisch,
    zu kompromissbereit
    in einem Spiel,
    das keine Gnade kennt.


    Ich habe selbst sabotiert,
    wenn auch aus Prinzipien.
    Ich habe das Geld von Götz Werner verhindert
    aus parteigesetzlichen Gründen.

    Was für ein Narr war ich,
    im Zeitalter der Maskendeals und Auslandsspenden,
    wo selbst illegale Schweizer Millionen
    nicht das Rückgrat einer Partei brechen.

    Die AfD zeigt, wie es geht.
    Illegal ist normal.
    Erwischt werden ist das Problem.
    Nicht die Tat.

    Und wenn du erwischt wirst,
    was passiert dir schon?
    Ein bisschen Steuerhinterziehung
    – mehr kommt da selten.


    Ich dagegen …
    ich hielt mich an das Gesetz.
    An Satzungen.
    An Moral.

    Ich bin der Idiot,
    der sich nicht bereichert.

    Ich bin der,
    der seine Kontakte nicht nutzt.
    Der nicht das große Geld ruft,
    obwohl er könnte.


    Aber vielleicht war das nie mein Spiel.
    Vielleicht bin ich nicht gemacht für diese Welt,
    in der Prinzipien wie Ballast abgeworfen werden,
    sobald man über die Fünfprozenthürde springt.

    Vielleicht bin ich naiv.
    Aber wenigstens kann ich mir morgens
    noch in die Augen schauen.

  • Kapitel 51: Freund, Feind, Parteifreund

    Man sagt:
    „Freund, Feind, Parteifreund“
    und lacht dann oft zynisch.
    Aber da ist Wahrheit drin,
    mehr Wahrheit, als mir lieb ist.


    Ich hielt ihn für einen Freund.
    Wir gründeten zusammen das Bündnis Grundeinkommen.
    Wie vorher schon bei den Piraten
    waren wir gemeinsam unterwegs –
    und wiederholten unbemerkt das gleiche Drama.

    Die Konflikte,
    die ich von den Piraten kannte,
    waren plötzlich wieder da.

    Aber nicht alle.
    Einige Probleme waren verschwunden.
    Sie fehlten bei den Piraten –
    seit Ron nicht mehr dabei war.


    Da ging mir ein Licht auf.
    Eine Konstante.
    Eine, die durch zwei Parteien lief
    wie ein Haarriss durch Glas.

    Ein Mensch,
    der dir auf den Rücken klopft –
    nicht aus Kameradschaft,
    sondern um die richtige Stelle zu finden,
    wo das Messer am besten sitzt.


    Ron,
    was bist du nur für ein psychopathischer Intrigant?

    Und ich?
    Was bin ich für ein Naivling,
    der immer noch glaubt,
    man könne Politik machen ohne Misstrauen?

    Ich denke oft:
    Ich bin trotz all meiner Intelligenz
    einfach zu dumm für Menschen wie dich.


    Das ist keine noble Niederlage.
    Das ist Verletzung.
    Und vielleicht sogar Schuld –
    weil ich zu lange gebraucht habe,
    um das Spiel zu durchschauen.

    Aber das Schlimmste ist:
    Ich war nicht mal überrascht.
    Nicht wirklich.
    Nur enttäuscht –
    und das viel mehr über mich
    als über dich.