Kieselsteine

  • Kapitel 40: Stimmen am Draht

    Nach dem Schreibdienst kam die Telefonauskunft. Seriös. Amtlich fast. Die Stimme fest, das Wissen prompt. Man war Stimme im Nichts, Orientierung für andere.
    Davor: eine andere Leitung. Achtziger Jahre. Anzeigenverkauf im Namen einer deutschen Polizeigewerkschaft.
    Nicht direkt, versteht sich. Die Gewerkschaft bleibt sauber. Die Drecksarbeit machen andere.
    Outsourcing von Scham.

    Die Polizei – ein Produkt. Ehrlich, sauber, sicher.
    Ein Türöffner am Telefon.
    „Guten Tag, im Namen der Polizeigewerkschaft …“
    Das zieht.
    Zieht Geld aus Firmen, die glauben, sie tun Gutes. Für das Ansehen. Für den Schutz.
    Aber sie kaufen sich nur ein in ein Heft, das mehr Anzeigen druckt als Inhalte.
    Ein teures Alibi.

    Wer da wie viel kassiert? Völlig irre. Keine Relation zu realem Marktwert.
    Ich konnte das nicht lange mit mir vereinbaren.

    Noch schlimmer davor: Drückerkolonne.
    Einem vermeintlichen Unfallopferhilfswerk. Klingt gut. War Dreck.
    Sechs Wochen im rollenden Wahnsinn.
    Menschen rekrutiert, in Wohnungen gesteckt, abhängig gemacht.
    Haustür für Haustür, Klinke für Klinke.
    Mitgliedschaften verkauft für ein Scheinhilfswerk, dessen Hauptziel es war, Menschen auszunehmen.

    Abschlussgebühren ausgezahlt, Stornos einkalkuliert.
    Ein System aus Schuld, Druck und Abhängigkeit.
    Ich sah, wie ein Kolonnenleiter einem ins Gesicht schlug. Quote zu schlecht.

    Ich ging. Einfach weg.
    Vor es zu spät war.
    Vor ich selbst Teil wurde dieses „legalen“ Verbrechens.

    Und bis heute?
    Niemand tut etwas dagegen.
    Weil es niemand sehen will.
    Oder weil es zu viele kennen – aus der anderen Perspektive.


    Merke schon die Kieselsteinchen werden immer kürzer.
    Als ich dies hier einstellte, viel mir noch der „Kollege“ ein,
    der sich nicht direkt als Polizist ausgab,
    aber doch mit dem Polizeigewerkschaftslogo,
    in der S-Bahn rumspielte.

    Wie auch immer diese Info zum Drückerkollonencallcenter kam,
    er wurde entsprechend runtergebürstet.

    Ob nun der Telekommitarbeiter die Leitung prüfen will,
    der scheinbare Sanitäter vor der Haustür steht,
    der Finanzberater am Telefon Geld sparen will,
    die großen Namen die Türe öffnen sollen,
    es wird nicht nur geduldet,
    es ist gewollt.

  • Kapitel 39 – Der Mann im Schreibdienst

    Ob die Bundeswehr mich stabiler gemacht hat?
    Ich weiß es nicht.
    Aber während die 80er Jahre in meinem Lebenslauf
    wie ein wilder Zirkus aus
    28 Firmen daherkamen,
    waren die 90er Jahre
    ein Bild der Konstanz:
    Zwei Firmen.
    Zwei Stationen.
    Zwei Inseln.

    Und die erste davon
    war eher eine Sandbank.


    Nach der Entlassung aus dem Dienst
    vermittelte mich das Arbeitsamt
    zur Berufsgenossenschaft.
    Ziel:
    Zehnfingerblind schreiben lernen
    und Phonodiktate tippen.
    Ein Job, den es heute
    nicht mal mehr auf LinkedIn gäbe.
    Und ich war –
    der einzige Mann
    im Schreibdienst.

    Das allein wäre noch kein Drama.
    Aber es war ein Sterbezimmer der Motivation,
    ein tristes Bürokratiegrab,
    gefüllt mit Diktatbändern
    und kafkaesken Aktenvorgängen.

    Ich tippte.
    Nur tippte.
    Aber ich las eben auch,
    was ich da tippte.


    Ein Fußkranker,
    dem man 40 Kilometer durch die Gegend schickte
    für ein Gutachten,
    damit er orthopädische Schuhe
    im Wert von 40 D-Mark bekommen konnte.
    Aber die Gutachten
    kosten das Zehnfache.
    Ein Irrsinn,
    der sich nicht versteckte,
    sondern mir täglich ins Gesicht grinste.

    Oder der Streit
    um Zentimeter:
    War es noch ein Wegeunfall,
    oder war der Schritt
    auf den Gehsteig schon
    Privatvergnügen?

    Ich saß in der Mühle
    zwischen Krankenkassen,
    Gutachtern
    und Juristen,
    und meine Intelligenz
    war mir dabei eher im Weg.


    Ich merkte,
    wenn ein Sachbearbeiter Mist gebaut hatte.
    Wenn das Diktat nicht zum Akt passte.
    Wenn Unlogisches
    wie amtliches behandelt wurde.
    Aber ich war eben
    nur die Schreibkraft.
    Nicht gefragt. Nicht befugt.

    Und dann war da
    noch der Geschlechteraspekt.
    Wenn ein Tippfehler zurückkam,
    wurde auf dem Flur geraunt:
    „Das war bestimmt wieder der Mann.“

    Ich war es oft nicht.
    Aber das spielte keine Rolle.
    Ich war der Fremdkörper
    im Frauenteam,
    also musste der Fehler
    automatisch ich sein.


    Aber ich lernte.
    200 Anschläge die Minute.
    Fehlerfrei.
    Schnell.
    Zuverlässig.
    Denn ich wollte
    diesen Spruch
    „Das war bestimmt wieder der Mann“
    nicht auf mir sitzen lassen.


    Es war eine triste,
    deprimierende Episode.
    Aber auch eine
    Lehrzeit:
    Wie tickt Bürokratie?
    Was richtet Misstrauen an?
    Wie fühlt sich
    strukturelle Abwertung an?

    Heute ist das
    nur eine Fußnote.
    Aber sie hat
    einige wichtige Zeilen
    in mein Verständnis von Systemen
    und Menschen
    geschrieben.



  • Kapitel 38 – Eine Dichterlesung, ein Wochenende, ein ganzes Leben

    Es war des Studenten Geburtstag.
    Mödling, 1994.
    Eine Dichterlesung.
    Man könnte meinen,
    so etwas sei harmlos,
    kulturell,
    ein Abend unter Schöngeistern.
    Aber es war alles andere
    es war schicksalhaft.

    Meine zukünftige Frau,
    eine Russin,
    war ebenfalls eingeladen.
    Ich kannte sie nicht,
    nur des Studenten Erzählungen:
    Wiener Kaffeehaus, Gespräche,
    eine interessante Frau.
    Und der Student hatte Geschmack –
    das wusste ich.
    Wer mit ihm konnte,
    war auch für mich ein Mensch
    zum Hinschauen.

    Ich las etwas
    aus einem unveröffentlichten Theaterstück.
    Ich halte es bis heute für schlecht.
    Sie las etwas über eine Katze.
    Aber vielleicht ging es nicht darum,
    was wir lasen.
    Es war eine Choreografie
    des Umschleichens.
    Ein Abtasten.
    Wer bist du?
    Was frisst du?

    Sie fragte den Studenten,
    ob Arnold verschwinden würde
    Und der Student –
    klug wie immer –
    sagte nur:
    „Keine Angst, Arnold bleibt über das Wochenende.“

    Damit war alles gesagt.
    Zwischen den Zeilen.
    Und hinter den Blicken.


    Wir kamen uns näher.
    Nicht laut.
    Nicht kitschig.
    Aber ernsthaft.

    Und ich dachte:
    Ist das möglich?
    Kann das jetzt schon so sein?

    Also tat ich etwas,
    was ich sonst nicht tat:
    Ich holte meinen Schulfreund nach Wien.
    Mein Schulfreund,
    mein bester Freund,
    mein Sparringspartner,
    mein Realitäts-Check.
    Er sollte
    sie anschauen.
    Nicht misstrauisch –
    nur vorsichtig.
    Denn auch Verliebtheit
    hat Platz für Vernunft.

    Und der Schulfreund –
    gab seinen Segen.


    Dann sagte ich ihr
    lauter schreckliche Dinge über mich.
    Die Abbrüche.
    Die Irrwege.
    Die Brüche und Widersprüche.
    Ich legte mich offen.

    Und sie?
    Sie nickte.
    Ruhig.
    Nichts schreckte sie ab.
    Nichts ließ sie zurückweichen.

    Nach einer Woche
    sagte ich:

    „Dann heiraten wir.“

    Und sie antwortete:
    „Ja.“

    Nicht als Frage.
    Sondern als
    Beschluss.


    Ja, es dauerte noch ein wenig.
    Formulare, Behörden, der übliche Kram.
    Aber eigentlich
    waren wir ab da verheiratet.
    In unserem Herzen.
    In unserem Willen.
    In unserer Entschiedenheit.

    Und jetzt –
    über 30 Jahre später –
    sind wir es immer noch.

    Denn manchmal
    entscheidet sich ein ganzes Leben
    an einem einzigen
    Wochenende.
    Bei einer
    Dichterlesung.



  • Kapitel 37 – Zwei Freunde, eine Frau und eine Domain

    Meine Frau,
    sie war – ohne es zu wissen –
    Knotenpunkt und Katalysator.
    Zwei Freunde verband sie miteinander.
    Der eine wurde
    mein Trauzeuge.
    Und ist es bis heute geblieben.
    Der andere –
    ich verlor ihn.

    Es war besonders,
    denn er war mein engster Schulfreund
    aus unserer gemeinsamen Schulzeit.
    Einer, mit dem man nicht nur lachte,
    sondern auch dachte.
    Stundenlang.
    Diskussionen.
    Seine Masterarbeit
    wir haben sie durchgeackert.
    Zusammen.
    Seite für Seite.
    Gary S. Becker stand im Zentrum.
    Und seine Kritik war präzise,
    klug und vor allem:
    gerechtfertigt.

    Denn was nützt eine Theorie,
    wenn sie nicht hält,
    was sie vorgibt?
    Wenn sie die Welt falsch erklärt,
    falsche Entscheidungen rechtfertigt,
    falsche Politik hervorbringt?

    Ich war enttäuscht,
    dass er nie eine Dissertation daraus machte.
    Er hätte den intellektuellen Atem gehabt.
    Die analytische Schärfe.
    Aber vielleicht fehlte ihm
    der Wille zum Sturm.


    Er stellte mich damals
    seinem Professor vor.
    Ich war stolz,
    neugierig –
    bereit für das Gespräch.

    Doch dann kam dieses Wort:
    Extrapolation.
    Ich war jung,
    unsicher.
    Und ich war
    zu feige nachzufragen.
    Ich nickte,
    verstand nichts
    und versagte mir selbst den Zugang.

    Ein Fehler,
    den ich später nie wieder machte.
    Nie wieder zu stolz,
    zu eitel,
    um zu sagen:
    „Ich verstehe das nicht – bitte erklär’s mir.“


    Dann kam Babsi.de.
    Eine Idee.
    Ein Projekt.
    Eine Domain,
    die ich heute noch habe:
    BauAbsichtenSystemInformationen
    (kurioser Name – ja –
    aber mit Herzblut gedacht.)

    Eine Art
    Immobilienscout24,
    lange bevor das groß wurde.
    Wir wollten
    strukturierte, transparente Immobilieninfo
    mit Bauabsicherungen verknüpfen.
    Innovativ.
    Mutig.

    Doch als es ernst wurde,
    als aus Träumen
    Verantwortung wurde,
    nahm er Reißaus.
    Schlich sich davon.
    Verdrückte sich.

    Der Feigling.

    So hart das klingt –
    aber genau so fühlte es sich an.
    Ein Freund,
    der nicht blieb,
    wenn’s real wurde.


    Manchmal sind die größten Verluste
    nicht die materiellen.
    Sondern die,
    bei denen man gemeinsam
    Zukunft gedacht hat –
    und sie dann
    allein weiterdenken muss.



  • Kapitel 36 – Lebenslauf: Zu viel für ein Blatt Papier

    12 Monate.
    Statt 20.
    Oder 16.
    Nur ein Jahr Bundeswehr –
    die Wehrzeitkürzungen hatten zugeschlagen.
    Und mit den anderen „Ausscheidern“,
    die noch 16 Monate gemacht hatten,
    ging es für mich
    ab zum Arbeitsamt.
    Der Ernst des Lebens,
    wieder mal.

    Ein Lebenslauf sollte es sein.
    Ehrlich.
    Alles rein, was ich gemacht hatte.
    Na gut, dachte ich –
    daran soll’s nicht scheitern.
    Ich schrieb. Und schrieb.
    Zwei abgebrochene Lehren,
    unzählige Jobs,
    praktisch alles außer Langeweile.

    Doch der Kursleiter
    sah das ganz anders.
    Das geht so nicht.
    Es war ihm schlicht zu viel.
    Zu wirr.
    Zu chaotisch.
    Aber es war halt die Wahrheit.


    Ich hatte das BGJ-Bau gemacht,
    und dabei gleich ein Schwimmbad gebaut –
    mit den eigenen Händen.
    Loch von Hand gegraben,
    weil keine Betonpumpe den Garten ruinieren sollte.
    Ytongsteine aufgesetzt,
    mit Zement verfüllt,
    Stahlbewehrung in die Fugen.
    Der Maurermeister meines Vaters
    meinte:
    Sauber gemacht.
    Aber halt –
    kein Gesellenbrief.

    Ebenso wie die Zimmererlehre,
    abgebrochen.
    Und doch auf Dächern rumgeturnt,
    verschalt, genagelt,
    zum Beispiel einer Tierklinik in München.
    Nicht offiziell,
    aber echt.
    Ein Arbeiterleben in Fußnoten.


    Dann war da die Teppichkette:
    Teppichrollen eingehängt,
    zugeschnitten.
    Wehe, so eine macht sich selbstständig –
    dann kracht’s.
    Beim Bremsen einer losrollenden Teppichbombe
    den Arm verbrannt.
    Passiert.

    Bäckereikette
    frühmorgens Brötchen und Backwaren
    in die Münchner Filialen gefahren.
    Nur sechs Monate,
    aber die Touren saßen.
    Pünktlich. Beladen. Entladen.

    Und dann die CD-Rohlinge
    Schleifen,
    Polieren.
    Damals war das noch echte Industrie.
    Metalldiscs,
    aus denen später Millionen CDs gepresst wurden.
    Das war prä-digitale Präzision.


    Und dann –
    Wien.

    Genauer:
    der Gürtel.
    Mein Ford Capri blieb liegen,
    und wer tauchte auf?
    Ein Student, der mir fortan ein wichtiger Freund wurde.

    Er half mir, das Auto
    aus dem Verkehr zu schieben.
    Und im Gespräch fragte er:
    „Kannst du ausmalen?“
    Ich verstand nicht gleich.
    „Was meinst du?“
    „Malerarbeiten,
    für mein Haus in Niederösterreich.“

    Klar doch.

    So begann Wien.
    Zwei Jahre.
    Einer Adresse in Mödling.
    Der Student bot mir an, bei ihm zu wohnen,
    statt im Auto.
    Aus einem Gefallen
    wurde eine Freundschaft.


    Ich machte weit mehr
    als ausmalen:
    einen Stukkolustro,
    eine „Korktür“,
    die eine Wand war
    und doch nicht –
    mit einer cleveren Verriegelung
    über ein verstecktes Fenster-Schloss.
    Die Tür sah aus wie eine Korkpinnwand.
    Eine Tür,
    die eine Nicht-Tür war.
    Ein bisschen Magie aus Baumarktmaterial.

    Dann das Bad
    selbst verfliest.
    Ich war stolz auf das Bodenmuster.
    Damals hielt ich es für genial.
    Heute?
    Ach, sagen wir,
    es war liebevoll gepuzzelt.


    Der Student blieb ein Freund.
    Bis heute.
    Und da war noch etwas
    eine Dichterlesung bei ihm.
    Und dort:
    Sie.

    Meine Frau.

    Nicht geplant.
    Nicht gesucht.
    Einfach geschehen.
    So wie vieles in meinem Leben:
    durch ein Gespräch,
    einen Zufall,
    ein Missgeschick
    am richtigen Ort.


    Ein Lebenslauf?
    Ja.
    Nur dass meiner
    nicht auf ein Blatt Papier passt.
    Eher in ein Buch.
    Oder zwei.



  • Kapitel 35 – Der Abend, an dem die Welt stillstand

    Jeder weiß, wo er war,
    als die Mauer fiel.
    Es ist einer dieser seltenen Momente,
    die sich wie eingebrannt haben –
    in Zeit, Raum und Gedächtnis.

    Ich war mit meinem Vater
    in der Sonnenstraße 20,
    Lohnabrechnungen durchgehen.
    Routine, wie so oft.
    Dann kam der Anruf:
    „Mach den Fernseher an.“

    Was dann geschah,
    ließ die Welt stillstehen.
    Der Bildschirm flimmerte,
    dann Bilder –
    Menschen,
    Grenzübergänge,
    Freudentränen.
    Ost-Berliner, die rüberkamen.
    West-Berliner, die Sektflaschen öffneten.
    Grenzer, die nicht mehr wussten,
    ob sie „Stopp“ oder „Willkommen“ sagen sollten.
    Ein Moment zwischen
    Befehl und Menschlichkeit.

    Und wir?
    Wir klebten am Fernseher,
    wie gelähmt vor Unglaublichem.

    Ich kannte die Vorboten.
    Da war ein Geschäftspartner aus Ungarn.
    Ein DDR-Bürger, der in Ungarn lebte
    und sich mit mir in München
    einen BRD-Pass besorgte.
    Er war kein typischer Flüchtling.
    Er hatte Arbeit, Sicherheit,
    eine Lithographieproduktion als Kooperationspartner –
    er war nicht auf der Flucht.
    Er wollte nur Vorsorge treffen.
    Für den Fall,
    dass das ganze Tauwetter plötzlich
    in Eiseskälte umschlug.

    Denn wir wussten es nicht.
    Im Frühjahr 1989 war nichts klar.
    Der Tian’anmen-Platz in China
    hatte gerade erst gezeigt,
    wie dünn der Faden sein kann,
    an dem Freiheit hängt.
    Der Geschäftspartner hatte recht mit seiner Sorge.

    Der Beamte im Aufnahmelager
    konnte es nicht fassen:
    Ein DDR-Bürger,
    der nur den Pass will,
    aber gar nicht hierbleiben.
    „Sowas gibt’s nicht“,
    meinte er sinngemäß.
    Aber doch,
    sowas gab es.

    Denn etwas Großes bewegte sich
    langsam, leise,
    aber unaufhaltsam.

    Und dann war da dieser Abend.

    Man sitzt da,
    sieht zu,
    und versteht:
    Das ist Geschichte.

    Nicht irgendwas in den Schulbüchern,
    nicht irgendein Jubiläum.
    Nein – jetzt,
    live,
    mitten im Büro Sonnenstraße Arbeit eingestellt.

    Ich wollte zur Grenze.
    Unbedingt.
    Irgendwohin,
    wo man das wirklich spürt.
    Nicht nur durch den Bildschirm.

    Aber München war zu weit.
    Der Moment war zu schnell.
    Und irgendwie
    war auch das Fernsehen
    wie eine Art Grenzübergang.
    Man konnte zusehen,
    staunen,
    ungläubig lachen,
    weinen.

    Für uns,
    die wir im Kalten Krieg groß wurden,
    war die Mauer so unüberwindbar
    wie der Horizont.
    Etwas, das einfach da war.
    Etwas, das nie fallen konnte.
    Und dann –
    fiel sie.

    Ganz ohne Schüsse.
    Ohne Panzer.
    Ohne Befehl.
    Einfach so.

    Und so saß ich da,
    mit meinem Vater,
    vor dem Fernseher
    in der Sonnenstraße 20
    und dachte:

    Es ist tatsächlich passiert.

    Und nichts
    wird je wieder so sein
    wie vorher.



  • Kapitel 34 – Kalter Krieg im Tauwetter

    Während ich mit 25 Jahren meine Grundausbildung gerade erst überstanden hatte
    und endlich meine Sicherheitsfreigabe hatte,
    änderte sich die Welt
    und wir übten weiter,
    als hätte sie das vergessen.

    Zweimal während meiner Dienstzeit
    wurde die Wehrpflicht verkürzt.
    Zweimal bedeutete das:
    Kein Raketenschießen auf Kreta.
    Die Königsdisziplin der Hawk-Einheiten – gestrichen.
    Diejenigen, die noch schießen durften,
    gehörten zur Generation vor uns.
    Wir übten nur mit Betondummys
    und hörten uns stattdessen die Geschichten
    der Luftwaffenpiloten an,
    die nach der Wende erstmals mit ehemaligen MIGs fliegen durften.
    Aus „Feindeshand“ wurde plötzlich Technikspielzeug,
    aus Abschreckung ein Abenteuerbericht.

    Es war eine merkwürdige Zeit.
    Wir probten immer noch den Ernstfall –
    voll fokussiert auf „Rot gegen Blau“,
    als wäre der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen.
    Tatsächlich war unsere Stellung nahe der DDR-Grenze,
    die es im Grunde nicht mehr gab.
    Im Kartenmaterial war sie noch verzeichnet,
    in den Köpfen mancher Ausbilder auch –
    aber auf der Straße war sie weg.

    Und doch – es war kein Spiel.

    Denn während wir übten,
    zog am Horizont ein anderer Krieg auf.
    Im Fernsehen flackerten die Bilder vom Golfkrieg,
    und eine Schwestereinheit wurde tatsächlich
    in die Türkei verlegt
    mitten ins Krisengebiet.
    Unsere Hawk-Raketen
    ein Relikt aus den 50er Jahren,
    ja, aber nicht nutzlos.
    Die Patriots in Ingolstadt waren zwar neuer,
    moderner, automatisierter –
    aber wenn es ernst wurde,
    würde auch unsere Stellung zählen.

    Drill war also kein Anachronismus,
    sondern Überlebensstrategie.

    Unsere mobilen Abschussrampen
    waren ständig in Bewegung.
    Betondummys rauf –
    Kabel verlegen –
    Startsimulation –
    und wieder abbauen,
    in Rekordzeit.

    Warum?

    Weil jeder Abschuss eine Signatur am Himmel hinterlässt.
    Ein greller Blitz –
    und irgendwo in der Ferne
    wird ein Gegner auf diesen Punkt eine Rakete programmieren,
    die schneller ist als unser nächster Kaffee.
    Deshalb das Mantra:
    „Abschießen. Abbauen. Weg sein.“
    Im besten Fall in unter 30 Minuten.
    Einmal schafften wir es in 27
    unser Rekord.

    Die Staffel wurde dabei stets gespalten:
    Eine Gruppe schießt,
    die andere packt schon ein
    und verlegt ins Nördlinger Ries,
    bereit zum nächsten Einsatz.

    Der Begriff „Stellungskrieg“ war bei uns kein festgefahrener Zustand,
    sondern ein hochmobiles Puzzle
    ständig auf Achse, ständig bereit,
    ohne zu wissen, ob der Gegner,
    den wir jeden Tag übten,
    überhaupt noch existierte.

    Denn in Wahrheit waren wir längst
    aus der Zeit gefallen.

    Die Mauer war weg.
    Die Welt sortierte sich neu.
    Aber unser Raketenregiment
    spielte das Spiel noch zu Ende,
    weil niemand den Text für den neuen Akt
    schon fertig geschrieben hatte.

    Und so übten wir weiter,
    als wäre Gorbi nur ein Gerücht
    und Kreta ein fernes Paradies,
    das wir nie sehen würden.



  • Kapitel 33 – Einrücken mit Vorgeschichte

    Silvester 1989 in Konstanz war klirrend kalt
    nicht nur wegen der Temperaturen,
    sondern auch wegen der Gewissheit,
    dass es das letzte Fest in Freiheit sein würde.
    Tom und Jan waren dabei,
    alte Freunde, beide schon fertig mit ihrer Zeit beim Heer.
    Jetzt lachten sie über die Luftwaffe,
    zogen über das Chemieklo von Germersheim her
    und machten Witze, wie man dort mit der Gasmaske einschläft.

    Und ich?

    Ich fror nicht nur am Bodensee,
    sondern innerlich bei dem Gedanken an die Grundausbildung im Winter.
    Eis, Matsch, Drill –
    der Gedanke war alles andere als erhebend.
    Aber es kam ganz anders.

    Der Winter 1990 war ungewöhnlich warm,
    und die Ausbilder murmelten,
    dass wir froh sein könnten,
    nicht im Hochsommer die Rheinauen durchqueren zu müssen.
    Mückenplage, Hitze, Feuchtbiotop mit Helm und Rucksack
    das sei die wahre Hölle.
    Da kam der Frühjahrsboden fast als Erholung daher.

    Aber Erholung war das natürlich keine.

    Germersheim war damals berüchtigt für seine sogenannte
    „Blutsockeneinheit“
    eine Bezeichnung, die mehr nach Vietnam als nach Pfalz klang.
    Im Klartext: viel Marschieren, viel Schleppen, viel Schwitzen.
    Und das schlimmste Gerät in dieser ganzen Show:
    der Zodiak, unsere mobile ABC-Schutzanlage.
    Kombiniert mit einer Innenraumatmosphäre,
    die einem Siedekessel glich.

    Dazu noch Maskenläufe mit leichtem Brechreizgas
    eine Methode, damit niemand auf die Idee kommt,
    im Ernstfall seine Maske vom Gesicht zu reißen.
    Es gab trotzdem ein paar Helleköpfe,
    die genau das taten.
    Lehrreich – für die anderen.

    Ich war 25, die meisten anderen 18 oder 19.
    Und das merkt man.
    Fitness ist im Alter keine Selbstverständlichkeit,
    aber ich zog mit.
    Nicht nur, weil es der Stolz wollte,
    sondern auch, weil ich nicht abgehängt werden wollte.

    Beim Gewaltmarsch,
    als Sebi zusammenklappte,
    war Tragen angesagt.
    Bundeswehr eben: Einer fällt,
    alle tragen.

    Mit dem G3 schoss ich erstaunlich gut.
    Besser sogar als früher mit dem Luftgewehr meiner Mutter,
    die immerhin bayerische Schützenmeisterin war.
    Das G3 ist eine ehrliche,
    handzahme Waffe
    präzise, gut ausbalanciert,
    und, wenn man ehrlich ist,
    weniger „zickig“ als manches Sportgewehr.

    Obwohl die Wiedervereinigung längst im Raum stand,
    war unsere Ausbildung noch klar auf Kalten Krieg ausgerichtet.
    Feindbilder inklusive.
    Und da tauchte plötzlich der MAD auf –
    der Militärische Abschirmdienst.
    Keine Sicherheitsfreigabe für mich.
    Zwei Jahre Österreich, das war ihnen zu undurchsichtig.
    Ich verstand das.
    Irgendwie sogar bewunderte ich,
    was sie alles über mich wussten.

    Die wussten auch von der „Radarstation“ in einem kleinen Ort im Landkreis
    die Teil einer Rallye-Frage meiner Eltern war.
    Ich hatte gedacht, das sei eine alte Station aus dem Kalten Krieg.
    Aber später erfuhr ich:
    es war meine zukünftige Hawk-Stellung
    eine Einheit, die nach dem Prinzip
    „Abschießen und in 30 Minuten verschwinden“ arbeitete.
    Einmal schafften wir es in 27 Minuten.

    Aber ohne Sicherheitsfreigabe durfte ich da nicht mal den Zaun sehen.
    Also neue Überprüfung.
    Diesmal fragte man nach Referenzen.
    Ich dachte kurz nach –
    und nannte meine Tante.
    Die hatte beim BND gearbeitet.

    Ein paar Tage später:
    Sicherheitsfreigabe erteilt.

  • Kapitel 32 – Bürgerlichkeit mit Keller

    Nein, Viehhandel war es ganz sicher nicht.
    Wir waren keine Bauern, sondern das,
    was man auf dem Land mit leichtem Stirnrunzeln als „die Städter“ bezeichnete.
    Gebildete Bürgerlichkeit auf dem Dorf,
    ein Münchner Geist in einem Körper auf dem Land.

    Mein Vater war einer dieser Männer,
    die in mehreren Leben gleichzeitig lebten –
    und die auch alle gleichzeitig funktionierten.
    Schon vor meiner Geburt war er der jüngste Unternehmer Deutschlands,
    ein Titel, den er nicht an die große Glocke hing,
    aber er wusste, was er war –
    und wie man Geschäft und Image zusammenrührt.

    Die München London Film GmbH war so ein Mosaikstein seiner Biografie,
    nicht nur ein Unternehmen, sondern auch Renommee auf dem Land.
    Denn in den Sechziger- und Siebzigerjahren war Film noch Magie,
    die Leinwand ein Fenster zur Welt,
    und wer dort arbeitete, war automatisch jemand.

    Mit dieser Aura kam er kostenlos aufs Bavaria-Gelände,
    was dort wahrscheinlich nur wenigen gelang.
    Kontakte, Charme, Cleverness –
    man kannte sich, und wenn nicht,
    kannte man bald seinen Ro 80.

    Ah, der NSU Ro 80
    damals wie ein Raumschiff auf Rädern.
    Wankelmotor,
    keilförmig wie ein Pfeil,
    und mit einem Auftritt,
    der selbst heute noch was hermachen würde.
    Und mein Vater?
    Natürlich in der Werbebroschüre als NSU-Kunde.
    Nicht aus Zufall –
    er hatte sich da mit Sicherheit einen Deal verhandelt,
    wie er es immer tat.
    Vielleicht günstiger,
    vielleicht exklusiver,
    aber auf jeden Fall: clever.

    Mit dem Ro 80 nach Hamburg in fünf Stunden
    das war sein Ding.
    Nicht angeben, sondern zeigen, wie’s geht.
    Modern denken, schnell handeln,
    immer einen Schritt voraus.

    Und dann war da noch das Baugeschäft:
    UG-BauUG für Untergeschoss.
    Weil man auch aus einer Lücke im Markt ein Geschäftsmodell machen kann.
    Die Fertighäuser von Hansa kamen ohne Keller,
    verkauft von meiner Mutter mit Feingefühl und Verstand,
    während ich irgendwo auf dem Musterhausgelände in München
    als Kind durch Wohnzimmer tobte,
    in denen noch nie jemand gewohnt hatte.

    Aber was fehlte, war der Keller
    also lieferte mein Vater ihn.
    Nicht als Nachgedanken,
    sondern mit einer eigenen Firma.
    Während die Kunden bei Hansa Häuser bestellten,
    kamen sie bei uns vorbei und sagten:
    „Und jetzt den Keller dazu, bitte.“

    Der Erfolg dieser Strategie lag in ihrer Schlichtheit.
    Was fehlt, wird geliefert.
    Was nicht geht, wird möglich gemacht.
    Und wenn es einen Umweg braucht,
    nimmt man eben den Ro 80.

    Auf dem Land waren wir Exoten.
    Nicht Bauern, nicht richtig Dorf,
    aber auch nicht abgehoben.
    Eher sowas wie ein urbaner Vorposten,
    mit Stil, Struktur – und einem Keller,
    der in keinem Fertighaus vorgesehen war.



  • Kapitel 31 – Der Suzuki Winz und das Rennen gegen die Zeit

    So kam ich also doch wieder im Elternhaus an –
    nicht freiwillig, sondern wegen der drohenden Ausschreibung zur Fahnenflucht.
    Die Flucht aus Österreich endete nicht in der Freiheit,
    sondern in der Realität:
    Kreiswehrersatzamt München,
    eine der hässlicheren Adressen meiner Jugend.

    Ich rumpelte hinein,
    ganz der verlorene Sohn,
    unterschrieb ein paar Blätter,
    unter anderem, dass ich „freiwillig“ einrücke
    und mich nicht ins Ausland absetze.
    Ein bürokratischer Euphemismus für:
    „Wir wissen, wo du bist.“

    Damit war mein Einrücktermin fix:
    1. Januar 1990.

    Aber das war Zukunft.
    Denn wir schrieben noch 1989,
    und der Dienst beim Vater ging wieder los.
    Nicht mehr Bau,
    sondern die Firma Interscan
    eine Lithographiewerkstatt mit dem Ruf,
    halb Deutschland mit Vorlagen für Schnundblätter zu versorgen.

    Pop Rocky,
    Bravo Starschnitt,
    Bild der Frau,
    Goldene Revue,
    und all das, was in Wartezimmern rumliegt
    und die Fantasie von Teenies und Klatschliebhabern füttert.
    Hinter den Kulissen: Retuschierte Bilder,
    gephotoshopt, bevor es Photoshop gab.
    Am Leuchttisch mit dem Skalpell,
    Rubylithfolien geschnitten,
    Belichtungen korrigiert,
    Buchstaben zurechtgerückt,
    damit das Lächeln größer,
    die Taille schmaler,
    und das Drama tiefer wurde.

    Und weil es um Drucktermine ging,
    wurden bei Interscan manchmal
    ganze Familien zu Logistikexperten unter Hochspannung.

    Da gab es diesen einen Auftrag –
    eine Tiefdruckproduktion in Wien,
    mit Konventionalstrafen,
    die den Familienbetrieb hätten ruinieren können.
    Also machten wir das, was man heute einen Just-in-Time-Einsatz nennt,
    aber ohne Computer, ohne Trackingnummern,
    nur mit Instinkt, Tempo und Benzin im Blut.

    Die erste Druckvorlage ging per „Suzuki Winz“ raus –
    mein Spitzname für einen Winztransporter mit Motorradmotor.
    So leicht, dass der Fahrtwind durch die Türpfalz pfiff.
    Aber er schaffte es.

    Die zweite fehlende Druckplatte fuhr mein Vater persönlich
    im Mercedes 500 SL
    dem Straßenpanzer mit Haifischcharme.
    Er jagte über die Autobahn nach Wien,
    als würde er selbst den Druck abziehen müssen.

    Die dritte, letzte Platte kam per Luftpost,
    besser gesagt: per Schwester,
    die mit dem Flieger nach Wien startete.
    Drei Menschen, drei Wege,
    ein Ziel: Druckfreigabe rechtzeitig liefern.

    Und tatsächlich:
    Alle trafen nahezu gleichzeitig ein.
    Die Produktion konnte beginnen,
    die Strafzahlungen blieben aus,
    der Auftraggeber war zufrieden
    und der Familienbetrieb um eine Anekdote reicher.

    Wenn man es so betrachtet,
    war ich da kurz vor dem Wehrdienst
    noch Teil eines verdammt gut getimten Heistfilms,
    nur dass es hier um Druckplatten statt Diamanten ging.

    Und so ließ ich 1989 hinter mir,
    voller Raserei, Risiko und Rubylith,
    bereit für die Kaserne –
    naja, so bereit, wie man eben sein kann,
    wenn der Suzuki Winz das letzte war,
    was man unter sich gespürt hatte,
    bevor der Tarnanzug kam.