Kieselsteine

  • Kapitel 50: Die, die möglich machten

    Der Erfolg hat viele Mütter und Väter.
    Ich war nie einer, der alleine strahlt.
    Vielleicht bin ich kein großer Netzwerker –
    aber ich kenne Netzwerker.
    Und manchmal ist das mehr wert
    als selbst der beste Redner zu sein.


    Eva Schreiber,
    Die Linke,
    war so ein Goldstück.
    Nie laut.
    Nie fordernd.
    Aber mit dieser unfassbaren Fähigkeit,
    Menschen zusammenzubringen.
    Auch solche,
    die sich eigentlich gegenseitig auf den Wecker gingen.

    Sie kannte meine Abneigung gegen Esoterik –
    und erwähnte ihre Nähe dazu nie.
    Nicht aus Angst,
    sondern aus Takt.
    Weil sie wusste,
    es würde nichts bringen außer Streit.

    Das ist nicht Verstellung.
    Das ist Empathie.
    Und sie war der stille Kitt,
    der aus dem „Bündnis Stop TTIP München“
    eine tragfähige Plattform machte.
    Ich habe das oft zu wenig gewürdigt.
    Aber ohne sie?
    Hätte es das so nie gegeben.


    Freundschaft ist das, was bleibt,
    wenn die Demo vorbei ist.

    Ich erinnere mich an ein spätes Telefonat –
    sie saß allein in ihrer Berliner Wohnung.
    MdB. Bundestag.
    Und in diesem Moment:
    einfach nur ein Mensch,
    der reden wollte.
    Über Einsamkeit, Intrigen, Zweifel.

    Ich war der Freund am anderen Ende der Leitung.
    Vielleicht der Einzige,
    der nicht wollte,
    dass sie irgendwo hin kommt.
    Sondern dass sie bleibt, wie sie ist.


    Christian Hirneiß war da auch noch nicht im Landtag.
    Auch Carmen Wegge,
    die mit uns gegen das bayerische Polizeiaufgabengesetz kämpfte,
    war noch nicht im Bundestag.
    Damals.

    Jetzt sind sie es.

    Ich glaube:
    Ich bin der Einzige aus dieser Zeit,
    der es nicht ins Parlament geschafft hat.


    Vielleicht hätte ich es als FDPler geschafft.
    So wie Jimmy Schulz.
    Ein Pirat im FDP-Gewand.
    Er verstand Software, Open Source, Datenschutz –
    und hatte genau die Klarheit,
    die ich in der FDP lange vermisst hatte.

    Aber ich habe aus Überzeugung gewechselt.
    Ich wollte nicht Karriere,
    ich wollte Konsequenz.

    Und dafür habe ich bezahlt.
    Mit Sichtbarkeit.
    Mit Einfluss.
    Mit Mandaten.

    Aber wenn ich heute zurückschaue,
    dann sehe ich:
    Ich war da.
    Ich war Teil.
    Ich habe angeschoben.

    Und ich habe Freunde zurückgelassen
    in den Institutionen,
    die ich selbst nie betrat.

  • Kapitel 49: Verrat auf offener Leitung

    Wie ich mich von der FDP entfernte,
    fand ein anderer dorthin –
    einst Republikaner, jetzt liberal geläutert.
    Seine Vergangenheit in Schönhubers Partei?
    Eine Jugendsünde, sagte er.
    Was zählt, war sein Jetzt.
    Und das war besser als bei vielen anderen:
    Jimmy Schulz
    mehr Pirat als mancher,
    der bei den Piraten das Parteibuch trug.

    Er sprach die Sprache des Netzes.
    Verstand Software.
    Verstand Open Source.
    Saß bei der ICANN,
    wo die Strippen des Internets gesponnen werden.
    Und: Er kämpfte.
    Mit uns.

    „Freiheit statt Angst“
    wir organisierten die Demo in München.
    Piraten, Grüne, Liberale.
    Nach 9/11 kam der Überwachungswahn
    und wir standen dagegen.

    Vorratsdatenspeicherung?
    Nein, danke.

    Das Netz sollte frei bleiben –
    nicht gefiltert, nicht gespeichert,
    nicht verraten.

    Und dann kam sie:
    Dorothee Bär.
    CSU.
    Twitterverliebt.
    Digitalisiert.
    Modern.
    Fast wie eine Piratin.
    Ein PR-Traum für eine Partei,
    die inhaltlich sonst im Modemzeitalter festhing.

    Wir dachten:
    Vielleicht bewegt sich ja was.

    Aber als es drauf ankam,
    als im Bundestag die Vorratsdatenspeicherung beschlossen wurde,
    stimmte die Union einstimmig zu.
    Und Bär?
    Sie verschwand.
    Nicht da.
    Nicht greifbar.
    Nicht verantwortlich.

    Sie war zur Abstimmung in den Bundesrat geflüchtet.
    Ein taktisches Verschwinden,
    damit man ihr den Verrat nicht nachweisen konnte.

    Aber ich wusste es.
    Wir wussten es.
    Und ich sprach es aus.
    Auf Twitter.
    Wo sie dann alle Twitterer zu „Psychopathen“ erklärte.
    Vielleicht meinte sie mich.

    Was bleibt?
    Die Erinnerung an den Verrat.
    An das Thema.
    An das Netz.
    An die Hoffnung,
    dass Inhalte stärker sind als Karrieren.

    Themen statt Köpfe“, sagten wir.
    Sie sagten: „Bär statt Haltung.“

  • Kapitel 48: Von Punkten zu Piraten

    Vier Jahre hatten sie gebettelt,
    hin und her argumentiert,
    überlegt, gezögert, gehofft:
    „Mach doch das mit der Doppelmitgliedschaft.“

    Aber ich war Liberaler.
    Nicht aus Kalkül, sondern aus Überzeugung.
    Gründungsmitglied der Jungen Liberalen,
    getränkt in den Gedanken der Freiburger Thesen
    einem Text, den ich nicht nur las,
    sondern verschlang wie eine politische Offenbarung.

    Diese FDP,
    die mit Punkten schrieb –
    F.D.P. –
    war einst ein Sammelbecken für kluge,
    faktenorientierte,
    liberal-humanistische Geister.
    Juristen, Ingenieure, Wissenschaftler.
    Leute, die wussten,
    dass Freiheit mehr ist als ein Schlagwort.

    Bürokratieabbau war kein neoliberal getrimmtes Mantra,
    sondern ein humanistisches Anliegen:
    Den Menschen von der Macht der Formulare befreien.
    Das war mein Liberalismus.

    Doch die Partei veränderte sich.
    Langsam, schleichend –
    bis sie nicht mehr meine war.

    Die F.D.P. wurde zur FDP.
    Aus Punkten wurden Logos.
    Aus Haltung wurde Markt.
    Und als sie dann wieder in die Regierung kamen –
    hoffte ich.
    Nur um zu sehen,
    wie sie eine Hotellobbysteuer einführten –
    und mit ihr neue Bürokratieberge.
    Windkraftanlagen,
    die früher mit einem Aktenordner genehmigt wurden,
    brauchten jetzt Wandschränke voller Papier.

    Da wusste ich:
    Es reicht.
    Meine Partei ist nicht mehr meine.

    Diejenigen,
    die vier Jahre lang leise
    an meiner Geduld genagt hatten,
    konnten jetzt grinsen.
    „Jetzt bist du also Vollpirat“, sagten sie.

    Ja.
    Ich trat aus.
    Und trat bei.
    Klarmachen zum Ändern.

  • Kapitel 47: Vor den Piraten

    Bevor wir Piraten wurden, waren wir Kinder des Netzes.
    Nicht der Konzerne, nicht der Plattformen –
    des freien Internets.

    Es begann in den 90ern,
    mit flackernden Modems und unbegrenzten Möglichkeiten.
    Wir hatten keine Filter. Keine Geo-Barrieren.
    Ein Planet. Ein Netz.
    CompuServe war nicht einfach ein Dienst –
    es war eine Gemeinde.
    Eine Welt, die offen war –
    und offen meinte: du konntest überall hin.

    Ehe du dich versahst,
    warst du in einem Chat mit einer Schulklasse in den USA.
    Deutsch-Unterricht.
    Sie suchten einen echten Deutschen.
    Du warst da.
    Und plötzlich warst du Botschafter deiner Sprache.

    Oder du hattest ein SCSI-Problem
    und landetest bei Alan Cox
    einer der Väter des Linux-Kernels.
    Nicht als Fan. Nicht als Zuschauer.
    Sondern als Gesprächspartner.
    So war das Netz: direkt. gleichwertig. grenzenlos.

    Wir waren Idealisten.
    Menschen wie Claudia Klinger,
    die mit dem Pegasuswettbewerb der ZEIT
    nach neuen Erzählformen suchte.

    Oder JUH mit seinem Sudelbuch.
    Oder der Macher von SelfHTML,
    das vielen von uns die erste Tür ins Web öffnete.

    Viele von uns kannten sich nicht.
    Und doch kannten wir uns.
    Jahre später trafen wir uns wieder –
    bei den Piraten.
    Nicht weil wir es geplant hätten,
    sondern weil unsere Geschichten denselben Ursprung hatten.
    Im offenen Netz.

    Wir erfanden neue Ausdrucksformen –
    Ketten-E-Mails, die Geschichten weitererzählten.
    Fiktive Firmen als Kunstform.
    Digitales Theater, als Bloggen noch kein Begriff war.

    Dann kam der Bruch.
    Die Musikindustrie nannte uns Piraten,
    weil wir teilten, was wir liebten.
    Es war nicht Diebstahl –
    es war Kultur.

    Aber sie erklärten unserer Lebensweise den Krieg.
    Und in Schweden sagten ein paar Leute:
    „Wenn ihr uns Piraten nennt –
    dann sind wir eben Piraten.

    Nicht als Diebe, sondern als Freibeuter.
    Nicht als Täter, sondern als Verteidiger.
    Wir waren nicht gegen Musik –
    wir waren für ein freies Netz.
    Für Wissen. Für Teilhabe.
    Für Kultur ohne Schranken.

    So gründeten sie die erste Piratenpartei.
    Und wir – aus Deutschland, aus den Foren,
    aus dem freien Netz der 90er –
    wir folgten.

  • Kapitel 46: Wenn keiner fragt, ob du kannst, sondern ob du zählst

    Manchmal wirkt die Welt wie ein Zerrspiegel.
    Ich war bei den Piraten sieben Jahre aktiv,
    strukturgebend, gestaltend,
    aber niemand in der Presse hat sich je gefragt:
    Wer ist dieser Typ eigentlich?

    Und dann kam das Bündnis Grundeinkommen.
    Ein Jahr.
    Kein Geld. Keine Macht. Kein Apparat.
    Aber plötzlich: Medieninteresse.

    Die Hallo München brachte ein Stück über mich –
    sie hatten recherchiert.
    Mein Onkel, früher Münchner Stadtrat, wurde als Referenz zitiert.
    Ich hatte es ihnen nicht gesagt.
    Sie hatten nach mir gesucht.
    Und wer recherchiert, zeigt echtes Interesse.
    Nicht die Abschreibepresse, nicht Copy-Paste.
    Echtes, journalistisches Fragen-Wollen.

    Brand Eins brachte ein Interview –
    im Strategieheft.
    Vor der Wahl geführt, aber leider erst danach erschienen.
    Eine Fotografin kam eigens für ein Shooting.
    Professionell. Wertschätzend.
    Ich war plötzlich jemand, der zählt.
    Obwohl sich an mir nichts geändert hatte –
    nur das Etikett war ein anderes.

    Auch die Krautreporter.
    Grimm kam persönlich nach München.
    Später erschien ein Artikel über Armut –
    ich hieß dort „Peter“.
    Ich hatte Hartz IV bezogen.
    Wie Ron.
    Wie andere auch.
    Aber gesagt habe ich das niemandem.
    Armut macht nicht sexy.

    Und trotzdem haben wir das gestemmt.
    Mit Mut, IT und Improvisation.
    Ich mietete einen Server für neun Euro.
    LDAP-Mitgliederdatenbank.
    WordPress-Multisite für jedes Bundesland.
    Eigene E-Mail-Konten.
    Verteiler.
    Telefonate.
    Kernteam zusammenstellen.
    Bundesland für Bundesland akquirieren.
    Ohne Lohn. Ohne Absicherung.
    Nur mit dem Willen, dass es geht.

    Eine Wegbereiterin namens Peggy war ein Geschenk.
    Denn eigentlich war es ihre Idee,
    die sie an Ron herantrug.
    Ron kannte mich,
    wusste um meine Arbeit an der Schopenhauerstraße 71,
    der Landesgeschäftsstelle der Piratenpartei.
    Ein Ort, der lange unter meiner Regie lief.

    Aber auch da, bei den Piraten,
    verpasste man Chancen.
    2016 hatte der Bezirksverband Oberbayern
    nicht begriffen, wie man Peergroups bindet.
    Man misstraute allem, was man nicht kannte –
    auch mir.

    Misstrauen ist kein guter Ratgeber.
    Schon gar nicht, wenn man Bewegung sein will.
    Mehr Offenheit hätte den Piraten gutgetan.

    Andere Länder wie die Tschechen
    machten es besser.
    Unsere Piraten hingegen –
    erst kamen die rechten Karrieristen,
    dann die linken Karrieristen,
    und dann…
    waren wir tot.

    Ich frage mich heute:
    Was wäre gewesen,
    wenn man weniger etikettiert hätte –
    und mehr einfach gefragt hätte:
    Was kannst du eigentlich?

  • Kapitel 45: Die Partei, die aus dem Chat kam

    Geld hatte ich nie.
    Und selbst als es plötzlich da war – oder hätte sein können – ließ ich es liegen.

    Fünf Millionen Euro.
    Ein Angebot von Götz Werner, über seine Schweizer Stiftung.
    Für das Bündnis Grundeinkommen.
    Für unsere Idee.

    Aber das Parteiengesetz ist klar:
    Kein Geld aus dem Ausland.
    Und Prinzipien waren mir wichtiger als Wege, die vielleicht zum Ziel führen – aber durch Grauzonen führen.

    Ron war stinksauer.
    Vielleicht war es der Anfang vom Ende.
    Vielleicht auch nur der Anfang eines ehrlicheren Weges.

    Was bleibt, ist die Geschichte.
    Die echte. Die vom 2. April 2016.

    Ein Chat auf Twitter.
    Zwei Menschen.
    Eine Idee.

    Ronald Trzoska:
    „Lust neue monothematische Partei zu gründen?“

    Ich:
    „Die Satzung ist ja mehr oder weniger vorgegeben durch die Gesetzeslage.“

    Ronald:
    „Das ist Quatsch. Eine Satzung ist die Verfassung einer Partei.“

    Und so ging es weiter.
    Hin und her. Argumente. Paragraphen. Idealismus.
    Am Ende: eine Vision.
    Eine Partei – für nur ein Thema.
    Das Bedingungslose Grundeinkommen. BGE.

    Wir nannten es das Bündnis Grundeinkommen.
    Kurzbezeichnung: BGE.
    Zusatz: Die Grundeinkommenspartei.

    Am 25. September 2016 wurde aus der Idee Wirklichkeit.
    32 Menschen aus 11 Bundesländern trafen sich in München –
    und gründeten eine Bundespartei.

    Wir waren keine Partei für alle.
    Wir wollten auch keine sein.
    Wir wollten: Werkzeuge sein.
    Für Kandidierende. Für eine Idee.

    Ein Bürgensystem schützte uns:
    Wer Mitglied werden wollte, brauchte zwei Gründer als Bürgen.
    Kein offenes Tor, sondern ein kontrollierter Eingang.
    Nicht aus Arroganz – aus Notwendigkeit.
    Denn Ideen müssen geschützt werden, wenn sie Bestand haben sollen.

    Von April bis September führten wir unzählige Gespräche.
    Konferenzen. Debatten.
    Und schließlich:
    Eintrag ins Parteienregister.

    Das Ziel:
    Das Grundeinkommen auf 45 Millionen Wahlzettel zu bringen.

    Und 2017 gelang es uns tatsächlich.
    Bundesweite Teilnahme an der Bundestagswahl.
    97.386 Stimmen.
    Kein Mandat.
    Aber ein Zeichen.
    Ein Anfang.

    Kapitel 45: Der, der ging, als es zählte

    Ich wusste, dass ich gehen würde.
    Von Anfang an.

    März 2017.
    Das hatte ich intern kommuniziert.
    Ein Jahr Aufbau.
    Dann Rückzug.

    Und ich ging nicht einfach still – ich verschwand bewusst.
    Ich tauchte nicht auf beim Bundesparteitag des Bündnis Grundeinkommen mit Vorstandswahlen.
    Nicht, weil ich trotzig war.
    Sondern weil ich wusste: Wenn ich da bin, bleibe ich.
    Und ich musste gehen, um mich selbst nicht zu verlieren.

    Stattdessen:
    Bundesparteitag der Piraten.
    Gespräch mit Patrick Schiffer.
    Ein Stunt? Vielleicht.
    Ein Symbol? Ganz sicher.

    Die Piraten? Sauer.
    Sie sahen Konkurrenz, nicht Strategie.
    Dabei war meine Absicht ganz anders:
    Brücken bauen, keine neue Front.
    Aber die Brücke wurde früh zerstört –
    durch den Bezirksvorsitzenden der Piraten Oberbayern.
    Was hätte werden können, blieb auf der Strecke.
    Und aus Verbindung wurde Trennung.

    Dann ging ich.
    Und mit mir ging etwas, was ich nicht für so bedeutend hielt:

    Struktur. Organisation. Haltung.

    Die Partei, die ich mit aufgebaut hatte,
    die ich zusammengehalten hatte,
    zerbröselte schneller, als ich schauen konnte.
    Nicht aus Böswilligkeit.
    Nicht aus Dummheit.
    Sondern weil zu viele dachten, der Bär sei schon erlegt –
    und sich um das Fell stritten, das es noch gar nicht gab.

    In zwölf Monaten eine Partei zu gründen,
    sie in allen 16 Bundesländern zur Bundestagswahl zu bringen,
    mit Unterschriftensammlung, ohne große Medien,
    ohne Geld, ohne Apparat –
    das ist eine logistische Meisterleistung.

    Und ich glaube –
    auch wenn ich es nicht beweisen kann –
    dass das noch niemand sonst geschafft hat.
    Nicht mal die Piraten.
    Obwohl sie seit 2006 existierten
    und 2009 mit 0,9 % zur Europawahl bundesweit bekannt wurden.
    Aber sie haben es beim Erstantritt nicht in alle Länder geschafft.
    Wir schon.

    Ich war danach ausgebrannt.
    Parteiintrigen, Machtspielchen, Kontrollverluste.
    Soziologisch faszinierend, menschlich belastend.
    Kaum ist die Idee geboren,
    fangen Menschen an, das Erbe zu verteilen.
    Der Bär atmet noch – und doch wird schon das Messer gewetzt.

    Manchmal fühlte es sich an
    wie in „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“.
    Absurdität trifft auf Ernst.
    Und mittendrin: Ich.
    Mit einer Idee, die plötzlich größer war als ich selbst.
    Und mit der Erkenntnis: Manchmal ist das Gehen die einzig richtige Form von Führung.


  • Kapitel 44: Zwischen Show und Substanz

    Zwischen Erfolg und Misserfolg liegen manchmal nur die Nerven.
    Oder der Mut, eine Illusion zu inszenieren, bis sie Realität wird.

    Damals – Viag Interkom.
    Ein Projekt mit einem potenziellen Volumen von 400.000 D-Mark im Monat.
    Kein Taschengeld. Kein Planspiel.
    Ein echter Fisch hatte angebissen – der Vorstand selbst.

    Die Idee war stark.
    Ein Callcenter, das besser ist als alles, was es auf dem Markt gab.
    Effizienter. Menschlicher. Durchdachter.
    Und ich hatte alles – außer: die Show.

    Der Vorstand wollte sehen.
    Nicht hören. Nicht glauben.
    Er wollte Räume. Agents. Headsets. Monitore.
    Eine Bühne.

    Ich hatte: Visionen.
    Was ich nicht hatte: Kulissen.

    Ich hätte einen Raum mieten können.
    Leute reinsetzen. Headsets verteilen.
    Eine Simulation bauen – wie es andere tun.

    Aber ich tat es nicht.
    Nicht aus Dummheit.
    Aus Anstand? Aus Angst? Aus einer alten Weigerung, Blender zu sein?

    Vielleicht war ich zu feige.
    Oder zu ehrlich.

    Und so ist es passiert, wie es dann eben passiert:
    Der Fisch schwamm weiter.
    Und mit ihm das Projekt, das hätte alles ändern können.

    Heute weiß ich: Erfolg ist oft nur eine Inszenierung.
    Und wer nicht mitspielt, bleibt Zuschauer.

    Aber ich frage mich manchmal:
    Wenn ich es getan hätte – nur einmal, diese eine Show –
    hätte es dann gereicht?

    Oder hätte ich mich selbst verloren?

  • Kapitel 43: Die Kunst des Wegnehmens

    Ich bin nie gut mit Geld gewesen.
    Nicht, weil ich es verprasst hätte.
    Sondern weil ich nicht skrupellos genug war, es wirklich zu verdienen.

    In den Achtzigern landete ich in einem Strukturvertrieb.
    HMI. Kapitallebensversicherungen verkaufen.
    Ein Name wie ein Industrieprodukt.
    Und das war es auch.

    Die Gesprächsleitfäden – psychologisch ausgeklügelt.
    Kein Zufall. Keine Improvisation.
    Ein System.
    Du nimmst dem kleinen Kind im Erwachsenen etwas weg.
    Sicherheit. Zugehörigkeit. Zukunft.
    Und dann bietest du genau das wieder an – als Produkt.
    Versicherung. Rendite. Versprechen.

    Strukturvertriebe verdienen an allem.
    Nicht nur am Verkauf.
    Sondern an denen, die verkaufen.
    Pyramiden auf zwei Beinen.

    Ich weiß, wovon ich rede.
    Meine Mutter machte zeitweise die Abrechnungen für die Allianz.
    Ich habe die Summen gesehen.
    Die Spitze der Struktur – das sind keine Zahlen mehr. Das ist Größenwahn.

    Aber du verkaufst nur, wenn du entweder dumm genug bist, das alles zu glauben.
    Oder skrupellos genug, dass es dir egal ist.

    Ich war keins von beidem.
    Ich hatte meine Zweifel.
    Und Zweifel riecht der Kunde wie kalten Rauch.
    Dann kauft er nicht.
    Ganz einfach.

    Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich nicht hätte skrupelloser sein müssen.
    Für ein besseres Leben. Für mehr Geld. Für das, was andere „Erfolg“ nennen.

    Aber dann denke ich:
    Vielleicht war es besser so.

    Ich habe nie gelernt, Menschen etwas wegzunehmen, nur um es ihnen teuer zurückzuverkaufen.

    Und das ist vielleicht das einzige Kapital, das ich wirklich besitze.


  • Kapitel 42: Die Stimme in der Leitung

    Ich habe mir das selbst beigebracht.
    Telefonieren. Recherchieren. Menschen lesen.
    Nicht mit einem Handbuch. Sondern mit Intuition. Und Routine.

    Ein Unternehmensberater setzte sich irgendwann neben mich.
    Nicht, um mich zu bewerten – sondern zu stoppen.
    Im Wortsinn.
    Stoppuhr in der Hand.
    Er wollte wissen: Wie schnell kann man Auskunft geben, ohne Bullshit?

    Ich war inzwischen der erfahrenste Agent.
    Also war klar: Wenn jemand das Limit misst, dann mit mir.

    17 Sekunden.
    Wenn du die richtigen Fragen stellst.
    Wenn du den Anrufer spürst.
    Wenn du weißt, was wichtig ist – und was nicht.

    Damals war es noch nicht selbstverständlich, bei einer Telefonauskunft durchzukommen.
    Und es war auch nicht selbstverständlich, dass man wusste, wie viele Leute man bräuchte, um 30.000 Anrufe am Tag zu bewältigen.
    Wir haben es ausprobiert.
    Live.
    Im laufenden Betrieb.

    Einmal im Jahr kam dann der Beweis, wie unberechenbar Menschen sind: Silvester.
    Kurz vor Mitternacht kannst du runterfahren.
    Nach Mitternacht auch.
    Aber Punkt null Uhr?

    Massensport.
    Ein halbes Land testete, ob es durchkommt.

    Sie riefen an, brüllten:
    „Yeah! Ich bin durchgekommen!“
    Und legten auf.

    Nutzlos.
    Aber menschlich.
    Und jedes Mal dachte ich: Wir messen den Wahnsinn mit Anrufzahlen.

    Zwischen 1 Uhr und 4 Uhr nachts brauchst du dann wieder zwei Agents.
    Mehr nicht.
    Es sei denn, irgendwas passiert.

    Wenn etwas Großes in der Republik los war, hast du das an der Leitung gespürt.
    Du wusstest nicht was – aber du wusstest, dass.
    Der Fluchtversuch aus Santa Fu war so ein Moment.
    Das Anrufvolumen explodierte.

    Und ja – auch die Polizei rief uns an.
    Damals jedenfalls.
    Heute ist das Internet die Auskunft.

    Wir waren die erste Mobilfunk-Telefonauskunft in Deutschland.
    Das war neu. Und es hatte Konsequenzen.
    Plötzlich riefen Prominente an. Musiker. Schauspieler. Politiker.
    Wer Mobil war, war bei uns.

    Und mit der Prominenz kam der Datenschutz.
    Verschwiegenheitserklärungen, die bis heute gelten.
    Du weißt, wer sich die Haare färben lässt.
    Aber du sagst es nicht.

    Einmal versprach uns Willy Michl, der bayerische Indianer, ein Konzert.
    Er war begeistert von unserem Service.
    Er meinte: „Ruft einfach an, ich spiele für euch.“
    Ein Geschenk. Eine Geste.

    Ich habe nie angerufen.


    Der Ton macht den Menschen

    In einem Massencallcenter lernst du alles kennen, was die Menschheit zu bieten hat.
    Das Gute. Das Schlechte. Das Dazwischen.
    Alles.
    Im Sekundentakt.

    Da sind die Aufbrausenden.
    Die, bei denen du sofort spürst: Nur ein falscher Ton – und die Leitung brennt.
    Du brauchst kein Psychologiestudium.
    Nur Erfahrung.
    Ein Satz, eine Stimmlage, eine Begrüßung – und du weißt, ob du heute eine Beschwerde am Hals hast oder nicht.

    Dann sind da die Netten.
    Die, die einfach nur quatschen wollen.
    Die deine Gesprächszeiten ruinieren, obwohl sie eigentlich nur Gesellschaft suchen.
    Auch sie musst du aus der Leitung bekommen.
    Nicht unhöflich. Nicht abwürgen.
    Nur effizient.

    Nach ein paar tausend Anrufen entwickelst du etwas, das man schwer erklären kann.
    Ein Gefühl. Eine Reaktionszeit unter einer Sekunde.
    Du weißt, wie du auf wen reagieren musst.
    Und du wechselst Rollen. Namen. Tonlagen.

    „Stellen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten durch!“

    Was der Anrufer nicht weiß: Der Vorgesetzte sitzt schon in der Leitung.
    Du.
    Nur mit einem anderen Namen.

    Also stellst du dich selbst durch.
    Gehst an den Gruppenleiterplatz. Meldest dich wieder.
    Diesmal mit ruhiger, autoritärer Stimme.
    Und plötzlich: Der Rüpel von eben ist butterweich.
    Freundlich.
    Fast unterwürfig.

    Gleicher Mensch. Gleiche Leitung.
    Nur ein anderer Name.

    Es ist erschreckend, wie manche mit dir sprechen, wenn sie glauben, du bist „nur“ ein Callcenter-Mitarbeiter.
    Und wie sie sich verhalten, wenn sie meinen, du bist Vorgesetzter.

    Ich habe es oft erlebt.
    Und jedes Mal war es ein Spiegel.
    Für sie. Für mich. Für unser ganzes System.

    Der Ton macht nicht nur die Musik.
    Er macht den Menschen sichtbar.



  • Kapitel 41: 17 Sekunden

    Geld hatte ich nie. Vielleicht am ehesten während meiner Zeit in der Telefonauskunft.
    Davor: Schreibdienst. Danach: IT-Support. Dazwischen: eine Fügung.
    Die Berufsgenossenschaft schickte mich in eine Depression. Der Therapeut empfahl das Abendgymnasium. Und gleich nebenan: ein Pilotprojekt – die erste private Telefonauskunft Deutschlands.
    Ich klopfte an.

    Fünf Leute waren wir.
    Der Inhaber. Ein Geschäftsführer. Ich. Ein Planer. Ein Agent.
    Ein Start-up, bevor es das Wort dafür gab.

    Die Muttergesellschaft verkaufte ihre Auskunftssoftware auch an die Telekom. Wir benutzten sie – unsere eigene Auskunftssoftware.
    Der Laden wurde hergerichtet wie eine Visitenkarte. Repräsentanz. Präsentationsobjekt.
    Manchmal pinselten wir sogar Steckdosen in Teppichfarbe, damit sie nicht störten.
    Der Künstler, der die Räume gestaltete, war mehr Gastgeber als Handwerker.

    Tagsüber Telefonauskunft, abends Gymnasium.
    Zumindest der Plan.
    In Wahrheit drehte es sich bald.
    Ich wurde Schulungsreferent, entwickelte Personaleinsatzplanung, programmierte PEP.
    Und irgendwann reichte ich nicht mehr nur Gespräche weiter – sondern Ideen.

    Einmal wurde ich an den Mutterkonzern „ausgeliehen“, um die Auskunftssoftware zu verbessern.
    Ich hatte eine Idee: Geographische Umkreissuche.
    Fixpunkt: ein Ort in der Schweiz.
    Nicht genial – aber funktional.
    Es funktionierte.
    Wie vieles in meinem Leben.

    Ich sagte immer: „Ich bin kein Programmierer.“
    Und das war auch gut so.
    Meine Einsatzplanung schrieb Daten auf Festplatte und holte sie sich wieder zurück – langsam, ineffizient, wie durch Schlamm.
    Bis ein Student neben mir stand und fragte:
    „Warum schreibst du das nicht in ein Array?“
    Antwort: „Weil ich Array nie gelernt habe.“

    Und plötzlich lief alles schnell.

    Learning by doing.
    Das war mein Studium.
    Windows 3.1? Lächerlich. Kein Papierkorb.
    Mein Atari ST in den Achtzigern konnte mehr.
    Microsoft war immer schon ein Witz für mich.

    Privat hatte ich früh Linux. SLS war meine erste Distribution.
    Davor: Boot- und Rootdiskette aus einer Computerzeitschrift.
    Beim Mutterkonzern: AIX im Backend, DOS als Client, VI als Editor.
    Bis heute: Vim auf der Kommandozeile.
    Nano? Nein danke.

    17 Sekunden – so lange darf eine Telefonauskunft dauern, wenn man sie richtig führt.
    Ein durch Messung eines Unternehmensberaters bestätigt.
    Mit der richtigen Frage.
    Mit dem richtigen Ohr.

    Und vielleicht war das mein Talent:
    Den Punkt finden.
    Im Code. In Gesprächen.
    Im Leben.


    Die Kapitel waren geschrieben für Kieselsteinchen.de

    Dann so beim Einstellen,
    ich vergesse den Künstler nicht,
    wie ich mit ihm die Wände der Visitenkarte dekorierte.
    Wir über die Telefonscheibe weiter links,
    oder doch weiter rechts diskutierten.

    Ich ihn fragte wie er dazu kam,
    dem Besitzer hätten in Schwabing seine Bilder gefallen.
    Und klar als Künstler gegen Geld eine ganze Etage austatten:
    Wow – ja warum nicht.