Kieselsteine

  • Kapitel 30 – Gefasst an der Grenze: Ein Fehler mit Folgen

    Die Bundeswehr hatte mich nicht vergessen.
    Ich war zurückgestellt worden, ja – wegen des gebrochenen Arms,
    der mir unter dem LKW meines Vaters fast zermalmt worden war.
    Aber vergessen? Nein.

    Nach der Schuhverkäuferlehre war ich nach Österreich verschwunden,
    ohne mich großartig abzumelden.
    Ein bisschen Flucht, ein bisschen Selbstsuche,
    ein bisschen: Ich bin dann mal weg.
    Zwei Jahre lang funktionierte das erstaunlich gut.
    Bis 1989.

    Es war Weihnachten,
    und ich wollte meine Eltern besuchen.
    Doch die Rückkehr nach Deutschland
    endete nicht unterm Weihnachtsbaum,
    sondern in einer Gefängniszelle an der Grenze.

    Nicht wegen Fahnenflucht,
    sondern wegen Urkundenfälschung.
    Ein absurdes Vergehen,
    so klein wie eine Schraube –
    und doch groß genug für ein Strafurteil in Abwesenheit:
    1.600 DM.

    Die Geschichte war eigentlich simpel –
    und saublöd.

    Ich hatte zwei Autos:
    Eins, das fuhr, aber nicht zugelassen war.
    Eins, das zugelassen war, aber nicht fuhr.
    Es war Weihnachten 1987,
    die Zulassungsstellen geschlossen,
    die Grüne Versicherungskarte schon da.
    Also dachte ich:
    „Was soll’s. Ich fahr einfach.“
    Und schraubte die Nummernschilder vom Wrack auf den fahrbaren Capri.

    Natürlich wurde ich erwischt.
    Nicht etwa wegen Alkohol
    den hatte ich nicht im Blut.
    Aber ich hatte das Auto nicht abgeschlossen,
    und es stand nach der Weihnachtsfeier auffällig vor einem Café.
    Die Polizisten hatten offenbar gewartet.
    Zogen mich raus,
    und dann passten die Kennzeichen nicht zum Fahrzeug.
    VW Passat laut Schild,
    aber da stand ein Ford Capri.
    Tja.

    Der Beamte stellte sich mir mit den Worten vor:
    „Stahl wie Eisen.“
    Kein Witz.
    Ich schwieg nicht – ein Fehler.
    Ein Anwalt hätte aus dem Fall vielleicht etwas anderes gemacht,
    aber ich redete – und die Justiz urteilte.

    Ich war nicht informiert worden.
    In Österreich erfuhr ich nichts von der Verhandlung.
    Kein Brief, kein Mahnschreiben.
    Und so stand ich an der Grenze,
    plötzlich verurteilt.

    In Salzburg landete ich in der Einzelzelle.
    Die Beamten waren eigentlich freundlich,
    sie fragten, ob ich niemanden anrufen wolle.
    Ich wollte nicht, dass meine Eltern zahlen.
    Wollte nicht, dass sie sich wieder mit meinem Scherbenhaufen beschäftigen.
    Aber die Beamten sagten klipp und klar:
    „Wenn niemand zahlt, gehst du in den Knast. Und das ist kein Witz.“
    Sie beschrieben mir, wie es dort ist.
    Und sie beschrieben es so lebendig,
    dass ich die Zelle mit jeder Silbe besser fand
    als das, was mir dort drohte.

    Also gab ich nach.
    Meine Eltern zahlten.
    Und ich kam raus.

    Doch damit war der Albtraum nicht zu Ende.
    Kaum frei, hielt man mir einen Brief vor.
    Von der Bundeswehr.
    Darin stand:
    „Wenn Sie sich nicht binnen zwei Wochen melden, werden Sie zur Fahnenflucht ausgeschrieben.“

    Der nächste Scherbenhaufen.
    Ein paar Jahre unsichtbar gelebt,
    und plötzlich holte mich alles ein:
    Justiz, Verwaltung, Wehrpflicht.
    Der Staat hatte einen langen Arm
    und ich stand ihm – mal wieder – gegenüber.

  • Kapitel 29 – Wache schieben: Zwischen Blaulicht und G3

    Nachtwachen ähneln sich.
    Ob du nun in der Rettungswache auf dem Klappbett liegst
    oder draußen an der Kasernenmauer mit dem G3 auf Patrouille gehst –
    wenn nichts passiert,
    passiert eben nichts.

    Im Rettungsdienst ist die Nacht voller Möglichkeiten:
    Ein Anruf, ein Notfall, ein Unfall.
    Oder eben: Stille.

    Du sitzt,
    spielst Karten,
    ratscht,
    döst,
    hast das Funkgerät im Blick.
    Und du weißt:
    Es kann jeden Moment losgehen.
    Oder auch nicht.

    In der HAWK-Staffel der Bundeswehr war das anders –
    gleichförmiger.
    Eintöniger.
    Und, ja: sinnloser.

    Patrouille im Kreis,
    mit scharfer Patrone im Lauf,
    am Zaun entlang,
    wo ein Schild hängt:
    „Betreten verboten – hier wird scharf geschossen.“
    Ein Satz, der auf der Rettungswache niemanden beunruhigt hätte,
    aber im militärischen Alltag das letzte bisschen Ernsthaftigkeit versprühte.
    Trotzdem:
    Es passierte nie etwas.

    Wer bei der Bundeswehr in ein Gelände einbricht,
    muss entweder verwirrt oder lebensmüde sein –
    und das wusste auch jeder,
    der da draußen Wache stand.

    Nur einmal kam ein NATO-Checker
    quasi die oberste Gefahr in ruhigen Nächten.
    Jemand, der prüft, ob der Dienst ernst genommen wird,
    ob du im Regen stehst oder im Jeep pennst.
    Einmal.
    In Monaten.

    Ansonsten:
    Warten.
    Frieren.
    Rauchen.
    Mit dem Gewehr über der Schulter
    und der Frage im Kopf:
    „Würde ich wirklich abdrücken, wenn jemand kommt?“

    In der Rettungswache hingegen:
    Unbewaffnet.
    Aber trotzdem näher am Leben.
    Dort hat das Warten einen Sinn –
    denn wenn der Alarm losgeht,
    geht es um Minuten,
    um Menschen.
    Nicht um Parolen.

    Vielleicht ist das die größte Erkenntnis aus beiden Wachen:
    Dass man in der einen nur den Zaun bewacht
    und in der anderen das Leben.

    Beide Male sitzt du nachts da,
    und nichts passiert.
    Aber wenn doch,
    macht es einen Unterschied,
    ob du Feuerwehrstiefel anziehst
    oder in Stellung gehst mit dem Finger am Abzug.

    Am Ende ist das Wacheste
    nicht der Körper,
    sondern die Frage:
    Wofür sitze ich hier eigentlich?

  • Kapitel 28: Blaulicht, Blut und Bilder im Kopf Man sagt, der Mensch gewöhnt sich an alles.

    Aber das stimmt nicht. Man funktioniert.

    Mehr nicht. Im Rettungsdienst lernte ich früh,

    was andere ihr Leben lang vermeiden:

    Blut.

    Körper.

    Tod. Ich war sechzehn oder siebzehn,

    und beim ersten Mal

    kotzte ich in den Straßengraben. Dritter Mann. Der Unerfahrenste.

    Mit rausgenommen zur Übung.

    Oder, wie man später zynisch sagt: „Damit du’s lernst.“ Ich lernte. Schnell.

    Nicht weil ich stark war,

    sondern weil ich musste. Da war der Motorradfahrer ohne Kopf –

    ein Stahlseil quer über die Straße.

    Ein falscher Winkel.

    Ein Splitsekundenfehler.

    Ein menschliches Leben auf der Straße verteilt,

    bis auf den Kopf, der fehlte. Dann war da der Schweißer aus Österreich –

    Tanklastwagen.

    Eine winzige Undichtigkeit.

    Ein Funke. Explosion. Man sagt, er hatte 100 Kilo.

    Was wir bergen konnten,

    waren 70.

    Kein Körper mehr.

    Ein Fall für Tüten, nicht Tragen. Dann war da das Kind,

    das irgendwo in der Region des Jugenddorfes

    auf dem Weg nach einer nahegelegenen Stadt

    seinen letzten Atemzug tat.

    Die Kindersitze, die Eltern,

    das kleine Gesicht, das nicht mehr lächelt.

    Es ist dieser Moment,

    wo man für Sekunden still wird –

    nicht aus Ehrfurcht,

    sondern weil man nicht weiß,

    ob man schreien oder brechen soll. Und danach: Funktionieren. Eintrag im Protokoll.

    Messwerte. Uhrzeit. Nichts fühlen. Denn wenn du da jedes Mal fühlst,

    hältst du keinen Monat durch. Die leichten Fälle vergisst du schnell.

    Der Rentner mit dem verstauchten Knöchel,

    die falschen Alarmierungen,

    die Panikattacken um drei Uhr nachts. Aber manchmal bleibt etwas hängen,

    nicht weil es schlimm war,

    sondern weil es das erste Mal war. Ein Mann,

    der sich vergiften wollte.

    Selbstmordversuch.

    Wahrscheinlich mehr Hilferuf als Absicht.

    Aber es war mein erster Einsatz.

    Mein erstes „echtes“ Leben in der Hand.

    Das erste Mal die Angst im Blick eines anderen sehen

    und nicht wissen,

    ob man selbst genug kann, um ihn zu retten. Später stumpft man ab,

    sagen sie. Aber das stimmt nicht. Man wird nur gut im Wegpacken.

    In Schubladen.

    Im Lächeln, wenn man anderen davon erzählt.

    „Ach ja, da war mal einer, dem fehlte der Kopf.“

    Und alle lachen nervös. Schwarzer Humor ist nur die Tapete für eine zersplitterte Innenwand. Und wenn dann einer fragt: „Wie hält man das aus?“

    Dann sagst du: „Man gewöhnt sich dran.“ Aber das stimmt nicht.

    Du lernst nur zu schweigen.

  • Kapitel 27 – Sekundenschlaf

    Dass ich noch lebe,
    ist bei nüchterner Betrachtung
    weniger ein Verdienst als ein Wunder.

    Denn der Käfer war nicht das einzige Auto, das ich der Welt entriss.

    Es war eine Feier.
    So eine, wie sie enden:
    Zigarettenqualm in der Luft,
    leere Flaschen auf dem Tisch,
    und irgendwann:
    alle weg.

    Bis auf sie.
    Meine Schwester.

    Die Letzte, die noch mit mir im Auto saß.
    Fiesta. Kein Luxus, aber rollte.

    Ich war müde.
    Nein, ich war drüber.
    Die Art von Müdigkeit,
    bei der die Lider bleischwer werden
    und der Kopf plötzlich schwerer als der Rest des Körpers scheint.

    Fenster runter, kalte Luft ins Gesicht.
    Der Klassiker gegen Sekundenschlaf.
    Sie meckert.
    „Mir ist kalt.“

    Ich bin Bruder. Ich bin Fahrer. Ich bin vernünftig.
    Fenster wieder zu.

    Fehler.

    Denn wenn sie schlafen kann,
    kann ich es auch.
    Und der Körper kennt den Heimweg
    nur bis zur letzten Vorfahrt-achten-Kreuzung.
    Danach
    verlässt ihn die Wachsamkeit.
    Stalleffekt.

    Psychologisch bin ich schon angekommen,
    praktisch:
    kommt da noch eine Kurve.

    Und ich nehme sie nicht.
    Nicht wach.

    Was mich weckt, ist kein Gedanke.
    Es ist
    ein Krachen.

    Ein Holzpfahl schlägt durch die Frontscheibe,
    spaltet das Glas
    als wäre es Papier.

    Ein Geräusch wie ein Faustschlag Gottes.
    Im Reflex dreht sich mein Kopf zur Seite.
    Später sehe ich das Loch,
    und die Spur,
    die er sich durch die Scheibe gefräst hat.

    Er wäre durch meinen Kopf gegangen.

    Ein runder Gegenstand –
    eine Erinnerung wie aus dem Traum eines Sterbenden.
    Ich sah ihn kommen.
    Ich duckte mich.

    Wäre ich zwei Sekunden länger müde gewesen,
    gäbe es dieses Kapitel nicht.
    Kein Gespräch.
    Kein Ich.

    Aber ich war da.
    Und kümmerte mich.
    Rettungssanitäter.

    Ich reagierte nicht mit Panik,
    sondern mit Routine.
    Sie – meine Schwester –
    in Schocklage gebracht.
    Pulskontrolle.
    Reden. Stabilisieren.

    Bis der Rettungswagen kam.
    Meine Wache. Die Rettungswache im Landkreis.
    Sie steigen aus,
    sehen mich.
    Sehen sie.

    Und einer sagt:
    „Deine Schwester ist nicht das Problem.
    **Du hast einen Schock. Komm mal runter.“

    Er hatte recht.
    Ich war funktional.
    Aber leer.

    Und so lag ich später da,
    nicht im Graben,
    aber in Gedanken.
    Und verstand:
    Leben ist keine Selbstverständlichkeit.

    Es ist ein ständiges Verpassen
    von Momenten, in denen man eigentlich hätte sterben sollen.
    Aber nicht gestorben ist.



  • Kapitel 26 – Totalschaden aus Erleichterung

    Es war einer dieser Wintermorgen, die nach billigem Kaffee rochen
    und nach Pflichtgefühl.
    Berufsschule. BGJ Bau – Grundausbildungsjahr.
    Von Erding nach Freising, das hieß:
    Kälte, frühe Dunkelheit, und ein alter VW Käfer,
    der mehr klappert als fährt.

    Mit an Bord: Tom und Max.
    Drei junge Männer, drei Schicksalsgemeinschaften,
    ein klappriges Blech,
    und eine Brücke,
    die alles ändern würde.

    Der Morgen war glatt,
    aber niemand sprach das aus.
    Man hofft ja immer, dass es nur halb so schlimm ist.

    Wir fuhren.
    Die Brücke kam.
    Eis.
    Unverhandelbar.

    Kaum waren wir auf dem Brückenbogen,
    zog der Käfer zur Seite wie ein erschrecktes Tier.
    Reifen verloren jeden Halt,
    die Kontrolle schwand.
    Panik nahm den Platz ein, wo vorher nur Müdigkeit saß.

    Am Ende der Brücke – eine 90-Grad-Kurve.
    Und direkt daneben:
    die Friedhofsmauer.

    Niemand will, dass die letzte Kurve im Leben
    ausgerechnet die ist, die dich zum Friedhof bringt.

    Alles, was dann passierte, war instinktiv.
    Schleudern, korrigieren, beten,
    irgendwie durch,
    linker Kantstein, rechter Kantstein,
    der Käfer tänzelte wie ein angeschossenes Tier
    durch den tödlichen Schwung.

    Und dann – wir waren durch.
    Wirklich durch.

    Überlebt.

    Das Gefühl:
    nichts zwischen einem selbst und dem Tod
    außer ein paar gebrochene Achsen
    und drei weit aufgerissene Augenpaare.

    Wir hielten nicht an.
    Wir atmeten durch.
    Und genau da, in dieser Erleichterung,
    in diesem
    „Wir leben noch!“,
    rollte der Käfer langsam rückwärts.

    Ein leises „klonk“,
    ein dumpfes „krach.“

    Betonpfosten.
    Unbeteiligt, emotionslos.
    Er nahm den Motorblock heraus
    wie ein Zahnarzt einen faulen Zahn.
    Totalschaden.

    Das Auto war kaputt.
    Aber wir waren heil.

    Und das ist ja irgendwie das Gegenteil von Tragödie.
    Oder, wie man in solchen Momenten sagt:

    „Käfer kaputt – wir leben noch.“

    Vielleicht war’s der schönste Totalschaden meines Lebens.
    Weil er nicht den Tod bedeutete.
    Sondern genau das Gegenteil.

  • Kapitel 25 – Können Sie fliegen?


    Ein Parteitag der Jungen Liberalen ist keine Weltrevolution,
    aber wenn man ihn organisiert, fühlt es sich trotzdem kurz so an.

    Der ursprünglich geplante Versammlungsort lag in Freising –
    eine Halle, die ich kannte, bei der ich sicher war, dass sie funktioniert.
    Sicherheit ist trügerisch.

    Bei der Vorbesichtigung dann der Schock:
    Die Halle war zur Disko mutiert.
    Sitzgruppen mit Sofas, Flaschenlicht, Chill-Ambiente.
    Kein Platz für Rednerpulte, für Ordnungsrufe,
    und schon gar nicht für politische Satzungsdebatten.

    Neuer Plan. Neue Halle. Keine Zeit.

    Einem kleinen Ort im Landkreis? Vielleicht.
    Ich rief den Wirt an, fragte, ob ich schnell vorbeischauen dürfe.
    Er bejahte.
    Ich sagte: „Bin gleich da.“

    Draußen vor dem Haus stand der Mercedes 500 SL.
    Nicht meiner. Natürlich nicht.
    Aber doch einer, der mir zur Verfügung stand.
    Familie, Firma, Schein. Wie das eben war.

    Ich sprang rein.
    Zündschlüssel, Gas, Fahrt.

    Der 500er liegt auf der Straße wie ein Brett.
    Gott, was für ein Fahrgefühl.
    Fast schon Meditation, nur halt mit 200 Sachen auf der Landstraße.
    Verkehrsregeln? Ich kannte sie.
    Aber sie galten oft nur für die anderen.

    Wenige Minuten später parkte ich vor dem Wirtshaus in dem kleinen Ort.
    Motor aus. Tür auf. Rein.

    Der Wirt sah mich an wie ein Gespenst.
    „Sie kommen von zu Hause, oder?“

    Ich nickte.

    Er sah auf die Uhr, sah zum Fenster, sah mich an:
    „Können Sie fliegen?“

    Ich lachte.
    Er nicht.

    Wir haben die Halle trotzdem bekommen.

    Protokolliert wurde die Anreise nie.
    Zum Glück.

    Denn wenn man jung ist,
    politisch hungrig,
    ein bisschen Größenwahn im Herzen
    und ein 500 SL unter dem Hintern –
    dann glaubt man manchmal, dass man wirklich fliegen kann.

    Nur gut, dass es damals noch keine Dashcams gab.
    Und keine Livetracker.

  • Kapitel 24 – Der Kondom-Karton und der Skandal, der keiner war

    Man hielt mich oft für einen Studenten.
    Lag wohl an der Sprache. Am Auftreten. Am Wissen.
    Aber ich hatte nie Abitur.
    Nur Leben. Und Verstand.

    Damals war ich Kreisvorsitzender der Jungen Liberalen im Landkreis Freising.
    Das war keine große Nummer, aber man war eben Teil vom Ganzen.
    Die Landesgeschäftsstelle der FDP Bayern war kein fremder Ort für mich. Ich ging dort ein und aus.
    Mitdenken, mitreden, mitorganisieren.

    Und dann: Der Karton.

    Ein ganzer Karton Kondome – mit Parteilogo.
    Kein Witz.
    HIV war das Thema der Zeit. Aufklärung. Prävention.
    Die Julis wollten sichtbar Verantwortung übernehmen.
    Also: Kondome mit Botschaft. Politisches Gummi.

    Ich nahm den Karton mit. Nach Hause.
    Dachte: Klar, das ist für unseren Kreis. Öffentlichkeitsarbeit halt.

    Was ich nicht wusste:
    Das war die Lieferung für ganz Bayern.
    Ich hatte versehentlich die zentrale Lagerstelle leergeräumt.

    Und dann passierte, was in der Politik oft passiert:
    Ein Versehen wird ein Skandal.

    Der Landesvorsitzende schlug Alarm.
    „Einbruch in die Geschäftsstelle!“
    „Die Kondome wurden gestohlen!“

    Die Presse roch Blut.
    Schlagzeile:
    „Kondom-Diebstahl bei den Julis – Einbruch in FDP-Zentrale?“

    Ich rief an. Sofort.
    „Die Dinger sind nicht gestohlen. Die sind bei mir. Alles ein Irrtum.“

    Die Antwort war eindeutig:
    „Halt die Klappe. Der Skandal läuft schon.“

    Willkommen in der Politik.
    Wahrheit verliert gegen Wirkung.
    Fakten gegen Schlagzeilen.

    Ich war kein Dieb.
    Ich war auch kein Student.
    Ich war einfach nur ein politisch engagierter junger Mann –
    mit einem Karton Kondome im falschen Ort zur falschen Zeit.

    Kein Verbrechen.
    Nur ein Fehler.
    Aber eben keiner, der noch zählte, wenn die Druckerpresse schon lief.




  • Kapitel 23 – Kein Name, kein Netzwerk

    Ich war nie gut im Netzwerken. Vielleicht war ich zu direkt. Vielleicht zu ehrlich. Vielleicht schlicht zu ungeschickt.
    Der Parteitag in Starnberg – FDP – Leutheuser-Schnarrenberger brachte einen Antrag ein, der, sagen wir, nicht gut war.
    Ich hatte eine Gegenidee. Besser. Klarer. Aber sie kam zu spät.

    Ich trat ans Mikro, sagte meine Gedanken, zeigte, wie man es besser machen könnte – die Reaktion war:
    „Warum hast du das nicht früher gesagt?“

    Ich war halt jung. Dachte, es geht um Argumente.
    Nicht um Absprachen im Vorfeld, nicht um Strippenziehen.
    Ein dummer junger Liberaler eben.
    Einer, der das Spiel nicht kannte, aber glaubte, es spielen zu können.

    Dann war da diese Nacht in der Schellingstraße.
    Ein Rumäne hatte Material aus Jugoslawien rausgeschmuggelt.
    Bilder.
    Nicht einfach Bilder.
    Folter. Massenmord. Grausamkeit, die im Magen liegt wie ein Stein.
    Wir saßen in einer Landesgeschäftsstelle, diskutierten:
    Was tun?
    Zur Polizei? Zur Zeitung? Verschwinden lassen?

    Tele 5 war in derselben Straße.
    Wir gingen hin. Übergaben das Material.

    Ein Teil wurde gesendet.
    Nicht alles.
    Der grausamste Teil wurde nie öffentlich.

    Was blieb? Kein Name.
    Wieder kein Name.

    Weil ich mich nicht vordränge.
    Weil ich nicht die Ellbogen ausfahre.
    Weil ich dachte, es reicht, das Richtige zu tun.

    Aber Politik, Medien, Öffentlichkeit – das sind keine Orte, wo das Richtige automatisch das Sichtbare wird.

  • Kapitel 22 – Volksbegehren – ein Sieg ohne Namen

    Ich schrieb einen Satz. Mehr war es nicht. Und doch war es alles.
    Ein kleiner Satz, der sich gegen den großen Satz „Das geht nicht!“ stellte.
    Damals, als die Studiengebühren in Bayern Gesetz werden sollten, formulierte ich ein einfaches Gesetz zur Änderung des Bayerischen Hochschulgesetzes:

    Art. 71 erhält folgende Fassung:
    „Die Hochschulen erheben von den Studierenden keine Studienbeiträge oder Verwaltungsgebühren.“

    Alle sagten, das sei nicht möglich. Zu einfach. Zu direkt.
    Vor allem: verfassungswidrig, weil es in den Landeshaushalt eingreife.
    Ich hielt dagegen.
    Das war keine Finanzentscheidung, sondern eine Änderung im Hochschulrecht. Die Finanzwirkung ist nur mittelbar. Also zulässig.

    Mein Volksbegehren scheiterte an der nötigen Zahl der Unterschriften.
    Die Freien Wähler waren schneller.
    Mit einem schlechteren Text, mit größerem Apparat, mit mehr Leuten.
    Sie kopierten die Idee, nicht den Gedanken.
    Aber sie kamen durch.

    Was bleibt?

    Das Bayerische Verfassungsgericht entschied:
    Mein juristischer Ansatz war richtig.
    Die Idee ging in die Entscheidung ein,
    wenn auch nicht mein Name.

    Später lief meine Domain und unsere Argumentation
    in das Volksbegehren der Freien Wähler mit ein.
    Keiner erinnerte sich mehr daran, woher das Ganze ursprünglich kam.
    Auch nicht an mich.

    Ich nenne es einen Sieg ohne Namen.
    Und vielleicht war es das auch.
    Aber: Es war ein Sieg.


  • Kapitel 21: Vom Vulkan zur Politik


    Kieselstein: Vulkan, eine Jugendkulturzeitschrift

    X-Pickel die Schülerzeitung, im Jugenddorf in Baden-Württemberg der Vorgänger
    Ein Ort, ein Keller, ein Rudel junger Köpfe, die dachten, dass sie das Denken dürfen.
    Die Schülerzeitung war verboten.
    Also gründeten sie was eigenes –
    mit Hitze, Trotz und Papier:
    VULKAN.

    Ein Name wie ein Aufstand.
    Selbstverlegt.
    Gedruckt in in der nächstgelegenen Kreisstadt.
    Finanziert mit dem Scheck deines Vaters.
    Ein paradoxes Bild: der Revoluzzer mit väterlichem Rückenwind.

    Im Abraxas-Bücherladen dann die nüchterne Realität:
    Die Zeitungen weg.
    Das Geld? Auch.
    Kein Verkauf. Keine Erinnerung. Kein Erfolg.
    Willkommen im Verlagswesen.


    Kieselstein: Politik

    Du warst achtzehn
    schon auf den Listen.
    Gemeinderat Kranzberg, Bezirkstag für die FDP.
    Und obwohl die FDP nicht in den Landtag kam,
    bekamst du Briefe mit:
    „Sehr geehrter Herr Landtagsabgeordneter.“

    Ironie. Missverständnis.
    Oder das, was bleibt, wenn man als junger Mensch
    den Staub alter Institutionen aufwirbelt
    und keiner zuhört.

    Mit Petra Kelly diskutiert.
    Mit einem Justizminister als Onkel gestritten.
    Ein Minister, von dem böse Zungen sagten,
    er sei „dritte Wahl“.
    Und du, vielleicht fünfte Wahl – aber wenigstens echt.

    Dein Text beim BUND:
    eine Watschn für Strauß,
    verpackt als Argument.
    Ein Denkmal, das den richtigen Namen trägt:
    Schandmal Franz Josef.